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Gast-Kommentar: Spirit of Berlin

Volker Depkat19. Juni 2013

Im Mittelpunkt von Barack Obamas Berlin-Besuch stand seine Rede vor dem Brandenburger Tor. Der US-Präsident hat dabei gezeigt, dass Berlin weiter Symbolkraft hat, meint der Amerikanist Volker Depkat.

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Lange ist er her, der Kalte Krieg, versunken die von ihm gebaute Welt. Mit der Mauer verschwand auch die herausragende symbolische Bedeutung Berlins als "Frontstadt des Kalten Krieges", als "Schaufenster des Westens", als Ort, an dem sich die von den USA geführte "Freie Welt" über sich selbst, ihre Werte und ihre Ziele im Ost-West-Gegensatz verständigte. Glanzvoll waren sie, die Besuche amerikanischer Präsidenten im Berlin des Kalten Krieges und bis an die Grenze des Erträglichen symbolisch aufgeladen. Den Maßstab setzte vor ziemlich genau fünfzig Jahren John F. Kennedy, der sich auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses stolz dazu bekannte, ein Berliner zu sein. Im Folgenden wandelten andere US-Präsidenten auf seinen Spuren, und das gar nicht einmal schlecht: Vor sechsundzwanzig Jahren forderte Ronald Reagan mit dem Brandenburger Tor im Rücken den Regierungschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, dazu auf, die Mauer endlich einzureißen, und neunzehn Jahre ist es her, dass Bill Clinton freudig feststellte, Berlin sei nun frei und alles sei möglich.

Volker Depkat von der Uni Regensburg - Foto: privat
Volker Depkat von der Universität RegensburgBild: Volker Depkat

Keine Frage, Berlin-Besuche waren nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die amerikanischen Präsidenten stets ein besonderes Ereignis, das ihnen die willkommene Gelegenheit bot, die deutsch-amerikanische Freundschaft und die gemeinsame Waffenbrüderschaft im Kampf gegen die totalitäre Bedrohung aus dem Osten auf ganz großer Bühne zu feiern.

Das alles ist nun lange her und der alte Glanz amerikanischer Präsidentenbesuche in Berlin etwas dahin. Auffallend lange Zeit gelassen hat sich US-Präsident Barack Obama mit einem Besuch in der deutschen Hauptstadt. Und hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihn nicht so inständig darum gebeten, wer weiß, ob er nach seinem Auftritt als Präsidentschaftskandidat an der Siegessäule 2008 überhaupt noch einmal als Präsident nach Berlin gekommen wäre. Er ist nun aber da gewesen und hat mit seiner Rede am Brandenburger Tor eindrucksvoll gezeigt, dass es mit der Symbolkraft der Spreemetropole noch nicht ganz vorbei ist und dass der durch den Kalten Krieg gefügte "spirit of Berlin" auch in der Welt des 21. Jahrhunderts noch eine Bedeutung haben kann.

Was US-Präsident Barack Obama mit seiner glanzvollen Rede leistete, war nicht mehr und nicht weniger als eine radikale Umdeutung von Berlin als Symbol für ein opferbereites Streben nach Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Damit verankerte er die Bedeutung der Stadt für die deutsch-amerikanische Partnerschaft völlig neu in den Zusammenhängen der globalisierten und vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts - und ließ die ganze Berlin-Symbolik damit endgültig aus dem Schatten des Kalten Krieges heraustreten.

Mit Blick auf die Straße des 17. Juni beschwor Obama den "Geist von Berlin" als Sinnbild deutsch-amerikanischer Beziehungen während des Kalten Krieges. Die Stadt und ihr "spirit" stünden für einen von Deutschland und den USA gemeinsam gefochtenen Kampf für Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Wohlstand. Konfrontiert mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - der Präsident nannte Klimawandel, die atomare Bedrohung, Terrorismus, die ungerechte Verteilung des Wohlstands in der Welt - müsse die bewährte deutsch-amerikanische Partnerschaft nun jedoch darauf hinarbeiten, in der ganzen Welt für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen.

Mit der starken Betonung von "Gerechtigkeit" wandte sich der amerikanische Präsident in besonderem Maße auch an die eigenen Landsleute. Deutlicher als vielleicht jemals zuvor kehrte der am Brandenburger Tor stehende US-Präsident der in seinem Heimatland immer noch vorherrschenden neoliberalen Glaubensdoktrin den Rücken, die, von tiefem Hass auf staatliche Regulierung getrieben, einem marktradikalen Liberalismus anhängt, für den die Regierung am besten regiert, die gar nicht regiert. Auch gegen diese Haltung argumentierte der US-Präsident in Berlin an, als er von der Balance von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit ebenso sprach wie von einer Balance von staatlichen Sicherheitsinteressen und individuellen Freiheitsrechten. Auch forderte er letztlich eine stärkere staatliche Aktivität zur Lösung der drängenden Umweltprobleme, bei der Abrüstung, in Fragen der globalen ökonomischen Gerechtigkeit und den Schutz von Minderheiten. Es könnte gut sein, dass wir erlebt haben, wie Präsident Obama vor den Augen der Weltöffentlichkeit das wirtschaftsliberale "Zeitalter Ronald Reagans" für beendet erklärt hat.

Allerdings kann dieser grandiose Versuch, die deutsch-amerikanischen Beziehungen für die Welt des 21. Jahrhunderts neu zu definieren, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA seit dem Ende des Kalten Krieges spürbar verändert hat. Gewiss, die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA sind stabil und gereichen beiden Ländern zum Vorteil. Die wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung zwischen ihnen ist so eng wie vielleicht nie zuvor. Deutschland und die USA - das ist wie eine alte Ehe, in der beide Partner sich bestens kennen, sich respektieren und wissen, was sie aneinander haben, aber auch wo die Differenzen liegen. Diese Liste ist lang: der Krieg gegen den Irak, Guantánamo, Drohnenangriffe, Eurokrise und Internet-Daten-Spionage. Doch sind beide Seiten erkennbar darum bemüht, ihre Unstimmigkeiten zugunsten der für beide Seiten vorteilhaften Kooperation zu moderieren. Deutschland und die USA haben sich seit 1990 etwas auseinandergelebt, können aber doch nicht voneinander lassen.

Das wiedervereinigte Deutschland emanzipierte sich recht schnell von der ehemaligen Schutzmacht, entwickelte eigene Interessen, orientierte sich stärker noch als zuvor an Europa, ging im Irak-Krieg auf Distanz zu den USA, war schockiert von den Nachrichten aus dem Foltergefängnis Abu Ghraib und ist es noch bei den Nachrichten aus Guantánamo. Besonders viel Jubel gab es deshalb für die Ankündigung von Präsident Obama, das berüchtigte Lager in Kuba nun endlich schließen zu wollen.

Doch auch die USA gingen seit dem Fall der Mauer eigene Wege, zogen Truppen und Mittel aus Deutschland ab, widmeten den neuen Demokratien in Osteuropa ihre ganze Aufmerksamkeit, orientierten sich stärker nach Asien und den pazifischen Raum, obwohl sie immer schon mit einem Auge dorthin geschaut hatten, und verstrickten sich in aufreibende Kriege im Mittleren Osten. Gleichzeitig begann die Generation des Zweiten Weltkrieges, die die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf beiden Seiten des Atlantiks mit Leben gefüllt hatte, nach und nach wegzusterben. Die einst lebendige Erinnerung an erfahrene Geschichte wurde auf beiden Seiten des Atlantiks immer mehr zum abstrakten Buch- und Bildungswissen.

Während Deutschland in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren für die USA insgesamt an Bedeutung verloren hat, spielen die USA im Gefühlshaushalt der Bundesrepublik weiterhin eine sehr wichtige Rolle. Seit ihrer Gründung im ausgehenden 18. Jahrhundert waren die USA für viele Deutsche immer auch eine Projektionsfläche für eigene Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte, die um Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Demokratie kreisten. Die Gebildeten des 18. Jahrhunderts sahen in den noch jungen USA vielfach die Verwirklichung einer aufgeklärten Utopie. Im 19. Jahrhundert packten Millionen Deutsche ihre Koffer und wanderten in die USA aus, um dort ihr Glück zu suchen, und nach 1945 wurden die USA in Westdeutschland als Befreier vom Nationalsozialismus begrüßt und als Beschützer vor sowjetischer Aggression geschätzt.

Bis heute nehmen die USA in der Bundesrepublik einen besonderen Platz ein. Anders ist die Begeisterung der Deutschen für Barack Obama nicht zu erklären. Im Jahre 2008 wurde der Präsidentschaftskandidat Obama zum Hoffnungsträger stilisiert, ohne dass jemand überhaupt danach fragte, für was er politisch eigentlich stehe. Nach der großen Entfremdung unter Präsident George W. Bush schien Obama vielen Deutschen "ihr" Amerika wiederzugeben: liberal, weltoffen, tolerant, pluralistisch – und nun wohl auch bald mit Krankenversicherung für alle. Bei der vergangenen Präsidentschaftswahl im November 2012 hätten immer noch mehr als neunzig Prozent aller Deutschen für Obama gestimmt – eine Zustimmungsrate, die in den USA niemandem zu vermitteln war, selbst bekennenden Obama-Fans nicht.

Nun wurde im Vorfeld des Obama-Besuchs viel von einer eher diffusen Enttäuschung über den Präsidenten Obama geredet, die sich ungeachtet seiner weiterhin beneidenswert hohen Popularitätswerte überall breitgemacht habe. Er sei kein Heilsbringer, keine Lichtgestalt mehr hieß es allüberall. Das war freilich nur gut so, denn die Hoffnungen und Erwartungen, die auf Obama projiziert wurden - und die er willig auf sich hat projizieren lassen - waren ja auch unrealistisch wie nur etwas. Doch waren sie in ihrer Maßlosigkeit auch sehr bezeichnend für die herausragende Bedeutung der USA in deutschen Vorstellungswelten. Deshalb folgt die allgemeine Ernüchterung über Präsident Obama hierzulande einer spezifisch deutschen Dynamik, denn immer schon ankerte die Amerikakritik in Deutschland zu einem Gutteil in enttäuschter Amerikaliebe. Irgendwie hat Amerika es noch nie geschafft, all die Erwartungen zu erfüllen, die Deutsche mit ihm verbunden haben. Das ist freilich eher ein Problem der Deutschen als ein Problem der USA, und dennoch, gerade heute hat die deutsche Kritik an den USA im Allgemeinen und an Präsident Obama im Besonderen etwas von der enttäuschten Liebe eines Musterschülers zu seinem lange verehrten Lehrer. Es könnte gut sein, dass Obama mit seiner Beschwörung des "spirit of Berlin" und seinem Bekenntnis zu "peace with justice" das Ruder herumgerissen hat, doch bleibt abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Eins ist jedenfalls klar: Die deutsch-amerikanischen Beziehungen sind weit davon entfernt, "normal" zu werden.

Volker Depkat ist Professor für Amerikanistik an der Universität Regensburg und Experte für US-europäische Beziehungen.