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Fußballrausch in Deutschland

Arne Lichtenberg23. Juni 2012

Seit der WM 2006 gehört die kollektive Nationaleuphorie bei Fußball-Großereignissen zum Alltag - auch bei der jetzigen EM. Doch einige sehen einen neuen Nationalismus aufkeimen.

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Berlin/ Fans jubeln am Sonntag (17.06.12) auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor in Berlin beim Public Viewing nach dem Ende des Spiels der Fussball-Europameisterschaft (EM) 2012 Daenemark - Deutschland, das Deutschland mit 2:1 gewann. Insgesamt werden bei der EM in Polen und der Ukraine 31 Begegnungen ausgetragen. Das Finale ist am 1. Juli 2012. (zu dapd-Text) Foto: Steffi Loos/dapd
UEFA EURO 2012 Dänemark DeutschlandBild: dapd

Deutsche Fahnen in den Gärten, inbrünstig die Nationalhymne singen, während die Hand bedeutungsvoll auf die Brust liegt. Dabei sind Gesicht und Körper mit schwarz-rot-goldenen Accessoires beschmückt. Noch vor wenigen Jahren waren diese Bilder undenkbar. Denn "es schickte sich nicht", stolz auf Deutschland zu sein. Zu belastet ist die Vergangenheit des Landes. Doch alles änderte sich schlagartig mit der heimischen Fußball-WM 2006. Plötzlich war es "in", Flagge zu zeigen. Zum Auftaktspiel gegen Costa Rica legten die deutschen Spieler damals beim Abspielen der Hymne ihre Arme umeinander. Tausende Fans in den Stadien oder auf den Plätzen beim Public Viewing taten es ihnen gleich. Ein Novum.

Anschließend wurde diese Entdeckung als "unverkrampfter Patriotismus" beschrieben und bejubelt. Endlich habe die deutsche Bevölkerung den Zugang zu einem vernünftigen und gesunden Nationalstolz gefunden, hieß es. Seit 2006 wiederholt sich dieses Phänomen in der Regel alle zwei Jahre, wenn große Fußballturniere anstehen.

Fußballfans jubeln am beim Public Viewing (Foto: dpa)
Schwarz-rot-gold ist wieder "schick"Bild: picture-alliance/dpa

Abwertung anderer Gruppen

Die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy wollte der Angelegenheit für ihr Buch "Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold?" genauer auf den Grund gehen und befragte während der vergangenen drei Turniere deutsche Fans auf der Straße. Das Ergebnis: Den meisten geht es vor allem darum, Zugehörigkeit zu ihrem Land auszudrücken. Doch sozialpsychologisch sei dies gefährlich, schreibt Schediwy. Denn der Stolz auf die eigene Gruppe sei stets mit der Abwertung anderer Gruppen verknüpft.

Diese These wird auch von der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld unterstützt. Sie weist nach, dass die Befragten nach der WM 2006 nationalistischer eingestellt waren, als frühere Befragte. Diethelm Blecking, Freiburger Sportwissenschaftler, verfolgt die ganze Entwicklung intensiv, will aber nicht zu viel daraus ableiten. "Es gibt nur diese zwei wissenschaftlichen Studien zum Thema und sie sind auch nicht sonderlich repräsentativ". So wurden für die Bielefelder Studie weniger als 1.000 Personen befragt. Außerdem, hieß es in der Erhebung, habe der Fußballrausch die Fremdenfeindlichkeit "nicht sonderlich" befördert. "Die Formulierung zeigt ja, dass die Wissenschaft selber ausgesprochen unsicher ist, was die Beurteilung dieser Prozesse angeht", sagt Blecking.

Diethelm Blecking, Sportwissenschaftler (Foto: Arne Lichtenberg)
Diethelm Blecking: "Ich beobachte diese Entwicklung genau"Bild: DW/Lichtenberg

Wissenschaftlich kaum nachzuweisen

Auch Dagmar Schediwy habe nur wenige hundert Menschen für ihre Untersuchung befragt, merkt Blecking an. Er bleibt daher skeptisch: Ein paar hundert Befragte würden für 82 Millionen Menschen stehen. "Das sind wirklich sehr kleine Ausschnitte aus einer Wirklichkeit."

Allerdings stimmt Blecking der These von Dagmar Schediwy zu, dass 2006 ein "nationales Coming-Out" stattfand. Dieser Prozess sei aber nicht erst seit der WM 2006 im Gange, sondern schon im Grunde seit der Wiedervereinigung 1990. "Schon 1998 hat der Schriftsteller Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche in einer berühmte Rede gefordert, dass man sich von der Last der Geschichte befreit. Die ganze Versammlung hat sich damals nach der Rede erhoben und ihm stehend applaudiert."

Mehr Event als gesellschaftlicher Wandel

Fußballfans schauen sich auf der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin das EM-Gruppenspiel Deutschland gegen Portugal an (Foto: dpa)
Die Fanmeile in Berlin gleicht zu Spielen der deutschen Mannschaft einem FahnenmeerBild: picture-alliance/dpa

Auch Jürgen Mittag, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln, betrachtet die neue Nationalismusdebatte nüchtern. "Diese Ereignisse werden im zunehmenden Maße als Event inszeniert und dazu gehören auch nationale Symbole." Dahinter stecke aber kein Nationalismus, sondern eher eine "als Partyerlebnis gelebte Deutschland-Atmosphäre".

Ein Fußballfan steht beim Public Viewing auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg (Foto: dpa)
Nationaler Rausch ohne Folgen?Bild: picture-alliance/dpa

Nach dem UEFA-Euro-2012-Gruppenspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Dänemark äußerten sich Unbekannte via Twitter rassistisch über den Spieler Mesut Özil und versuchten eine Hetzkampagne anzuzetteln. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich reagierte umgehend und bezeichnete die rassistischen Internet-Attacken gegen den deutschen Spieler als widerwärtig: "Der Fall Özil zeigt nur die Spitze des Eisbergs". Gibt es doch einen neuen Nationalismus, der sich gegen Minderheiten richtet und andere ausgrenzt? Jürgen Mittag von der Sporthochschule Köln hält solche Auswüchse eher für Trittbrettfahrerei: "Es gibt einzelne Gruppen, die sich des Fußballs bedienen, gerade weil Fußball diese große gesellschaftliche Bedeutung hat."

Der Sportwissenschafler Blecking sieht bei der ganzen Diskussion den Fußball als Gemeinschaftserlebnis im Vordergrund. Die These des neu aufkeimenden Nationalismus greift ihm zu kurz. "Viele Jugendliche haben heute ein Sinnproblem. Sie wissen nicht, was sie in den nächsten 20 Jahren erwartet". Vor allem junge Leute würden die Gemeinschaft beim Fußball suchen, um diese Leere zu füllen.

Jürgen Mittag, Sporthistoriker (Foto: Arne Lichtenberg
Jürgen Mittag: "Ein paar Tage Hochstimmung, dann ist der Höhepunkt überschritten"Bild: DW/Lichtenberg

Beide Sportexperten sind sich sicher, solche Events seien kurzfristige Ereignisse, deren Wirkung schnell wieder verpuffe. Nicht anders sei zu erklären, warum wenige Wochen nach den tollen Spielen der multiethnischen DFB-Elf bei der WM 2010, an denen sich viele erfreut hätten, das Buch von Thilo Sarrazin "Deutschland schafft sich ab" zum Bestseller mutierte.