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Friedensmissionen mit beschränkter Haftung

Jennifer Fraczek16. Juli 2014

Ein Zivilgericht gibt dem niederländischen Staat eine gewisse Mitverantwortung an dem Massaker in Srebrenica vor rund 20 Jahren. Damit steht den Angehörigen der Opfer Schadenersatz zu. Ein Urteil mit Signalwirkung.

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Französische Soldaten einer UN-Friedensmission im Sudan (Foto: AFP/Getty Images)
Bild: PHILIPPE HUGUEN/AFP/Getty Images

Wer haftet und entschädigt, wenn bei internationalen Friedensmissionen die Bevölkerung, die eigentlich geschützt werden soll, zu Schaden kommt? Diese Frage beschäftigte bereits einige Gerichte, jetzt hat es in den Niederlanden wieder ein Urteil dazu gegeben. Geklagt hatte die Vereinigung "Mütter von Srebrenica", zu der sich tausende Angehörige der Opfer des Massakers von Srebrenica zusammengeschlossen haben.

Der Name Srebrenica steht für eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: Im Juli 1995 überfielen serbische Einheiten die bosnische Kleinstadt und töteten 8000 bosnisch-muslimische Jungen und Männer. Srebrenica lag in einer sogenannten Schutzzone der Vereinten Nationen (UN), für die niederländische Blauhelm-Soldaten zuständig waren. Als sie von serbischen Einheiten angegriffen wurden, überließen sie ihnen widerstandslos alle Beobachtungsposten und Sperranlagen - und halfen ihnen bei der Deportation von mehr als 300 muslimischen Jungen und Männern, die sich vor den Serben auf das holländische Militärgelände geflüchtet hatten.

Für diese Deportation zog das Gericht den niederländischen Staat nun zur Verantwortung. Er muss den Angehörigen Schadenersatz zahlen. Es ist das erste Mal, dass ein Heimatstaat einer UN-Friedenstruppe für Kriegsverbrechen Dritter haftbar gemacht wird.

Niederlande haben "Vorreiterrolle"

Über Verantwortlichkeiten bei internationalen Missionen wurde vor Gericht schon öfter gestritten. Gegen die deutsche Regierung wurde wegen des NATO-Bombardements der Varvarinbrücke im Kosovo 1999 und wegen des Luftangriffs bei Kunduz 2009 geklagt - beide Male erfolglos. Die Niederlande seien hier eine Art Vorreiter, sagt der Rechtsprofessor Andreas von Arnauld. Das jetzige Urteil folge zwar der bisherigen niederländischen Rechtsprechung in Sachen Srebrenica, dennoch sei nicht fest damit zu rechnen gewesen. Denn allgemein gebe es bei den Gerichten eine Abneigung dagegen, in solchen Fällen für eine Haftung des Staates zu entscheiden, sagte der Direktor des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht der Universität Kiel im DW-Gespräch.

Grabsteine der Potocari-Gedenkstätte für den Völkermord in Srebrenica (Foto: dpa)
Grabsteine der Potocari-Gedenkstätte für den Völkermord in SrebrenicaBild: picture-alliance/dpa

Im September 2013 hatte ein niederländisches Gericht schon einmal Angehörigen von Srebrenica-Opfern Schadenersatz vom Staat zugebilligt. Geklagt hatten die Angehörigen dreier Männer, die nach dem Angriff der Serben in einen niederländischen Stützpunkt flüchten wollten, aber weggeschickt wurden. Das Gericht urteilte ähnlich wie im aktuellen Fall: Die Männer hätten den serbischen Einheiten nicht ausgeliefert werden dürfen.

Es bleiben einige offene Fragen

Der Unterschied zum jetzigen Prozess: Die "Mütter von Srebrenica" sahen eine umfassendere Verantwortung des niederländischen Staates. Sie wollten, dass das Gericht feststellt, dass die Niederlande für das Massaker als solches haften sollen. Für sie ist dieses Urteil deswegen nur ein Teilerfolg. Eine der Klägerinnen sagt, es habe nun Gerechtigkeit für eine Gruppe gegeben, das sei gut. "Aber wie soll man einer Mutter erklären, dass die Niederländer für den Tod ihres Sohns auf der einen Zaunseite verantwortlich sind, nicht aber für den ermordeten Sohn auf der anderen Seite des Zauns?"

Für die 300, die sich im niederländischen Militärlager befanden, soll das Land also verantwortlich sein, für die Tausenden anderen in der Schutzzone aber nicht? Warum konnten sie die anderen nicht beschützen? Andreas von Arnauld glaubt, dass sie dafür nicht gut genug ausgerüstet waren. Das wiederum sei Sache derjenigen, die die Operation UNPROFOR planten, also der Vereinten Nationen.

Die "Mütter von Srebrenica" haben vor einigen Jahren versucht, die UN zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings genießt die Organisation bei nationalen Gerichten Immunität. Auch alle Versuche, auf UN-Ebene solche Haftungsfragen zu klären, seien bislang gescheitert, sagt Arnauld.

UN-Soldaten in Potocari stehen vor Hunderten von muslimischen Flüchtlingen (Foto: dpa)
Ein Fernsehbild vom Juli 1995: Niederländische UN-Soldaten in Potocari mit Hunderten muslimischen FlüchtlingenBild: picture-alliance/dpa

Der Rechtsexperte glaubt dennoch, dass das aktuelle Urteil ein Schritt hin zu einer gemeinsamen Verantwortung von UN und den an den Missionen beteiligten Staaten sein könnte. Denn nach Ansicht des Gerichts seien die Niederlande eben nicht allein für das Fehlverhalten der UN-Soldaten während des Massakers verantwortlich.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) sieht - zumindest bei der Entsendung niederländischer Truppen - vor allem folgende Gefahr beseitigt: Dass bei einem etwaigen Rechtsbruch durch UN-Truppen letztlich gar keine Verantwortungsübernahme stattfindet. Gemeinsame Verantwortung wäre aber wohl am besten. Denn tragen die Nationen sie alleine, werden sie sich eine Teilnahme an solchen Einsätzen in Zukunft vielleicht gut überlegen.