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Soziale Prävention durch Mediziner

Jeanette Seiffert13. Oktober 2013

Kinder aus schwierigen Familien sind häufiger krank und haben öfter psychische Störungen als ihre Altersgenossen. Kinderärzte fordern nun eine bessere Vorsorge.

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Ein junges Mädchen sitzt in einem Spielhaus auf einem von Hochhäusern eingeschlossenen Spielplatz im Stadtteil Billstedt in Hamburg. (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Kevin oder Jaqueline aus einer Bochumer Hochhaussiedlung haben ein höheres Risiko, psychisch krank zu werden als Lea-Sophie und Maximilian, die in einem Einfamilienhaus in Hamburg aufwachsen. So das gängige Klischee, das allerdings tatsächlich mit harten Zahlen belegt wird. Wie sehr das Wohlergehen von Kindern davon abhängt, in welcher Umgebung sie aufwachsen und welchen sozialen Status ihre Eltern haben, ist schon in mehreren Untersuchungen nachgewiesen worden. 32 Prozent der Kinder, die psychisch auffällig werden, haben Eltern, die wenig gebildet sind und schlecht verdienen. Bei Kindern aus wohlhabenden und gebildeten Familien liegt das Risiko nur bei 16 Prozent. Das war zum Beispiel das Ergebnis einer Studie zur Kindergesundheit des Robert-Koch-Instituts von 2007.

Kinder spiegeln Familienverhältnisse

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin schlägt angesichts dieser Zahlen Alarm: "Wenn eine Familie Schwierigkeiten hat, egal ob das finanzielle Probleme sind, Verhaltens- oder Beziehungsprobleme, dann treten die Symptome immer auch bei den Kindern auf", erklärt ihr Generalsekretär Karl-Josef Esser im DW-Interview. Es handle sich um eine dramatische Entwicklung, "weil offensichtlich die Anzahl der Kinder mit diesen Problemen, die eigentlich von den Eltern verursacht werden, größer wird."

U7a-Untersuchung bei einem Mädchen. (Foto: Klaus Rose)
Kinderarzt als Wegweiser?

Auf ihrer diesjährigen Tagung haben die Kinder- und Jugendmediziner ein Konzept entwickelt, wie sie selbst mehr dazu beitragen können, dass Kinder gesund aufwachsen. Ärzte spielen eine entscheidende Rolle dabei, dass Probleme frühzeitig erkannt werden, meint Esser. Denn die Krankenkassen bieten für alle Kinder in regelmäßigen Abständen Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt an. Er überprüft dabei, ob sich das Kind altersgemäß entwickelt. In einigen Bundesländern sind diese Untersuchungen Pflicht, Krankenkassen und Jugendämter achten gemeinsam darauf, dass Eltern sie mit ihren Kindern in Anspruch nehmen.

"Bei diesen Vorsorgeuntersuchungen, zu denen ja fast alle Kinder kommen, versuchen wir diese Probleme zu erkennen, mit den Eltern zu besprechen und geeignete Hilfen zu vermitteln." Je nach Einzelfall kann das eine Sprachförderung für das Kind sein, eine Familientherapie oder eine Betreuung der Eltern durch Erziehungsberatungsstellen.

Versteckter Mangel

Kinder aus schwierigen Familien fallen besonders häufig mit Entwicklungsstörungen auf: "Das heißt, sie laufen zu spät, sie haben Verhaltensstörungen, sind zum Beispiel "Schreikinder", sehr aggressiv oder besonders still." Oft seien die Kinder zu dick, weil die Eltern nicht genügend auf eine gesunde Ernährung achten. Auch körperliche Probleme wie Vitamin D- oder Eisenmangel tauchen bei Kindern aus schwierigen Verhältnissen häufiger auf.

Kinder beim Theater-Untericht in Hamburg. (Foto: DW/J. Albreht)
Grundschüler beim Theaterunterricht: gezielte Förderung von Anfang anBild: DW/J. Albreht

Die Leiterin des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen in Köln Mechthild Paul hält die Kinderärzte für extrem wichtig, um an gefährdete Familien überhaupt erst heranzukommen: "Das Gesundheitssystem hat einen ersten, nicht stigmatisierenden Zugang. Zum Arzt geht schließlich jeder", erklärt sie der DW. "Man kann da hingehen, ohne sich gleich zu outen, dass man ein besonderes Problem hat." Aus ihrer Sicht müsste man aber noch früher ansetzen, mit dem Beginn der Schwangerschaft. Die frühe Phase bis zum dritten Lebensjahr des Kindes habe man in Deutschland lange vernachlässigt.

Aus Pauls Sicht wäre es vor allem notwendig, die unterschiedlichen Stellen, die Unterstützung für Familien anbieten, besser zu vernetzen: "Indem man diese frühen Hilfen bündelt, die Akteure sich miteinander austauschen und jeder passgenau das anbietet, was die Familie braucht, und nicht das, was er zufällig gerade in seinem Angebot hat." Das Nationale Zentrum soll künftig dazu beitragen, Projekte in ganz Deutschland besser zu koordinieren und einheitlichere Strukturen zu schaffen. 177 Millionen Euro will die Bundesregierung bis 2015 dafür ausgeben

Nicht an den falschen Stellen sparen

In vielen deutschen Städten und Kommunen gibt es bereits sehr erfolgreiche Konzepte, um Familien in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen: Zum Beispiel durch so genannte Familienhebammen, die bis zu einem Jahr nach der Geburt eines Kindes regelmäßig zu Besuch kommen. Oder durch ehrenamtliche Familienpaten, die den Eltern zur Seite stehen. Doch diese Angebote gibt es noch nicht überall in Deutschland. Vor allem armen, hoch verschuldeten Kommunen fehlt oft das Geld dafür.Bleibt diese passende Hilfe aus, kann das später verheerende Folgen für die Familien, besonders aber für die Kinder haben, betont Karl-Josef Esser: "Wenn nicht interveniert wird, dann ist meist die Schullaufbahn gefährdet. Wenn zum Beispiel das Verhalten auffällig ist, müssen oft Sondermaßnamen eingeleitet werden, das heißt, das Kind muss zum Beispiel eine Sonderschule besuchen, die Familie muss besondere Unterstützung erhalten." Und das kann auch für den Staat teuer werden: Eine Berechnung des Zentrums für Frühe Hilfen hat ergeben, dass es im Extremfall sechzig mal so viel Kosten kann, einfach abzuwarten und zu riskieren, dass ein Kind womöglich im Heim landet oder keinen Schulabschluss schafft. Anders ausgedrückt: Für jeden Euro, den der Staat in die Prävention steckt, spart er später bis zu sechzig Euro. Mechthild Paul warnt allerdings davor, allein auf die Kosten und den finanziellen Nutzen dieser Hilfen zu starren: "Mir ist viel wichtiger, wie viel Leid man den Familien erspart."

Kinder spielen vor der Hochhaussiedlung "Rosenpark" in Dietzenbach
Kinder spielen vor einer Hochhaussiedlung in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa