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Fortschritt ohne Rücksicht

Philipp Barth19. Mai 2014

Brasilien baut Straßen und Infrastruktur für die Fußball-Weltmeisterschaft. Vor allem ärmere Bewohner mussten deshalb ihre Häuser räumen. Für die Enteigneten ist die WM schon vor ihrem Beginn ein Alptraum.

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Lastwagen auf WM-Baustelle in Brasilien (Foto: Adveniat)
Bild: Adveniat

Fortschritt ohne Rücksicht - Zwangsumsiedlungen in Brasilien

"Eine Woche", habe der Mann von der Stadt gesagt. Dann werde das Abrisskommando anrücken. Jéronimo Oliveira spricht mit leiser Stimme. "Und als sie kamen, waren sie äußerst brutal, ohne jedes Verständnis für uns." Der 72-Jährige sitzt im Schulhof einer verlassenen Schule. Die Kinder verschwanden gemeinsam mit seinem Viertel Camaragibe. Wo noch vor kurzem 480 Familien ihr zuhause hatten, arbeiten nun Bagger an einer mehrspurigen Straße. Sie soll das Busterminal am Stadtrand der nordbrasilianischen Stadt Recife mit dem WM-Stadion verbinden.

Ein halbes Jahr ist es nun her, dass Jéronimo sein Haus verlassen musste. Noch immer kämpft er für seine Entschädigung. 15.000 Euro soll er bekommen, viel zu wenig, findet er. Der Marktwert seines Hauses sei mehr als dreimal so hoch. Immerhin hat er schon einen Großteil des Geldes erhalten. Viele der ehemaligen Nachbarn warten darauf noch. Im Bürokratie-Dschungel Brasiliens komme das von der Bundesregierung bereitgestellte Geld aber aus unerfindlichen Gründen nicht an. "Seit Wochen gehen wir jeden Tag zum Amt, aber wir werden dort immer wieder vertröstet", sagt Adjuilma Perreira. Die 42-jährige Mutter von zwei Kindern schaut über die letzten Ruinen, die noch stehen. Sie sei voller "Wut und Trauer", sagt sie. Manche hätten über 50 Jahre lang im Viertel gewohnt.

Geräumt für private Projekte?

Jéronimo Oliveira (Foto: Adveniat)
Jéronimo Oliveira soll mit 15.000 Euro entschädigt werdenBild: Adveniat

Ob die Straße bis zur WM fertig wird, ist fraglich. Eins aber ist sicher: Sie wird die Cidade da Copa (WM-Stadt) an die Stadt anbinden. Rund um die Arena entstanden mitten im tropischen Wald Luxusappartements, Bürogebäude und ein Shoppingcenter. Organisationen wie das Bürgerkomitee Recife kritisieren, dass mit öffentlichen Geldern eine Infrastruktur für das privatwirtschaftliche Projekt finanziert wurde. Jéronimo stört das nicht. Die Straße sei schon wichtig für die Entwicklung der Region. Aber die Behörden seien total inkompetent. "Sie hätten erst genau planen sollen, dann die Betroffenen entschädigen und dann bauen. Dann hätte es die ganzen Probleme nicht gegeben."

Für Projekte zur Weltmeisterschaft wurden nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen etwa 250.000 Menschen mehr oder weniger zwangsumgesiedelt. Auch Im WM-Ort Sao Paulo. Vor zwei Jahren kam in der Innenstadtfavela Buraco Quente die Nachricht über das Ende des Viertels. Es stand der neuen Hochbahn im Weg, die den Innenstadtflughafen mit dem Stadion des FC Sao Paulo verbindet. Letztendlich wird die WM nun im Stadion des Clubs Corinthians stattfinden, die Bahn kommt trotzdem und wird vor allem wohlhabende Viertel an das Verkehrsnetz anbinden.

Fortschritt ohne Rücksicht - Zwangsumsiedlungen in Brasilien

Entschädigung reicht nur für eine Wohnung im Außenbezirk

Geílson Sampaio wirkt abgeklärt, obwohl er gerade auf den Überresten seines Hauses steht. 25 Jahre hat er hier gelebt, jetzt hilft er als Sozialarbeiter den ehemaligen Nachbarn. Für die 400 Familien in Buraco Quente gab es zwei Optionen, wie Sampaio erzählt. Entweder Entschädigungen bis zu 40.000 Euro oder eine Mietunterstützung für Sozialwohnungen. Die sind seit zwei Jahren an gleicher Stelle versprochen. "Hier glaubt aber niemand daran, dass die Wohnungen jemals gebaut werden", sagt der 28-Jährige. "Geld, um die Wartezeit zu überbrücken, habe sowieso niemand". Fast alle entschieden sich für die Entschädigung und mussten Monate dafür kämpfen.

Geílson Sampaio (Foto: Adveniat)
Sozialarbeiter Geílson SampaioBild: Adveniat

So wie Terezinha Souza, die 54 Jahre in Buraco Quente lebte und als Sprecherin der Favela galt. Rund 28.000 Euro stehen ihr zu, viel zu wenig um eine Bleibe in der Nähe zu finden. Die 65-Jährige mit den tiefen Furchen im Gesicht weiß nicht, ob sie das Geld jemals erhalten wird. Sie fürchtet, bald das Schicksal ihrer Nachbarn zu teilen und in die Randbezirke ziehen zu müssen. Wir haben sie besucht, kurz bevor auch ihr Haus, das letzte von Buraco Quente, abgerissen wurde.