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Von Somalia nach Europa

Ronny Arnold18. November 2012

Was erleben Menschen auf der Flucht, millionenfach auf der ganzen Welt? Um das nachvollziehen zu können, haben sich deutsche Jugendliche aufgemacht - per Rollenspiel von Somalia Richtung Europa.

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Eine Gruppe Jugendlicher mit Rucksäcken (Foto: DW/R. Arnold)
Bild: DW/R. Arnold

Wie an einer Schnur aufgefädelt stehen sie im Hof des DRK-Jugendcamp Premsendorf: 26 somalische Flüchtlinge, die eben noch fröhliche Jugendliche aus Sachsen-Anhalt waren. Nun halten sie ihre Köpfe gesenkt, folgen willenlos den Anweisungen des vermummten Aufsehers im Armeelager. Keiner traut sich, auch nur ein leises Wort zu sprechen. Immer wieder schreit er sie an, lässt Einzelne vortreten, fragt sie aus: Woher sie kommen, wohin sie wollen. Nach Deutschland also. "Warum wollt ihr unser wunderschönes Land verlassen?" Keiner antwortet, betretene Blicke. "Schaut mich nicht an!", schreit der Soldat.

Eintauchen ins Flüchtlingsleben

Vier Familien auf der Flucht, jede Gruppe hat fünf bis sieben Mitglieder. Meine Familie, die ich in den kommenden 24 Stunden begleiten werde, heißt Abokor, ihr Clan sind die Isaaq. Es ist kurz vor 13 Uhr in Premsendorf, einem kleinen Dorf mitten in Sachsen-Anhalt. Sarah, Julian, John, Daniela und Steve haben sich eben erst kennen gelernt, nun gehören die 15- bis 25-Jährigen zusammen und sind Chamali, Kalid, Fahima, Nazia und Mire, Bauern aus Boorama, auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Somalia. Ihr Ziel: Deutschland. Das sechste Mitglied ist Patricia, sie ist 23, in ihrer neuen Rolle heißt sie Abu und spielt den 48-jährigen Vater, den Kopf der Familie. "Ich denke, das Rollenspiel ist eine einmalige Erfahrung, weil man nicht jeden Tag die Möglichkeit hat zu erfahren, wie es Flüchtlingen auf der Welt geht." Patricia wirkt angespannt, sie weiß nicht, was als nächstes passiert. Schon schreit sie der nächste Aufseher an.

Am Schreibtisch sitzen drei Jugendliche einem Mann gegenüber (Foto: DW/R. Arnold)
Auch der Behördengang gehört dazuBild: DW/R. Arnold

Amtssprache im Camp ist ab sofort Englisch. Wer sich auf Deutsch unterhält, wird bestraft. Nur ein paar Augenblicke später weiß Familie Abokor, was es heißt, somalischen Soldaten ausgeliefert zu sein. Den Hof haben sie verlassen, nun werden sie in einem abgedunkelten Raum durchsucht. Persönliche Gegenstände werden ihnen abgenommen, Handys, Uhren, Schmuck. Nur der Kopf der Familie, Abu, darf mit den Aufsehern sprechen. Wer die strikten Anweisungen nicht befolgt, muss mit dem Gesicht zur Wand stehen, singen oder hüpfen. Ihre nächste Aufgabe: Ausreisepapiere besorgen, insgesamt 12 Dokumente. Es ist eine Farce. Die Familie rennt von einem Büro zum nächsten, im ersten werden die Anträge abgelehnt, im zweiten zerrissen, im dritten für ein paar Dollar genehmigt. Einbehaltene Pässe erhalten sie gegen ein paar Zigaretten oder Mobiltelefone wieder ausgehändigt. Willkür und Bestechung in jeder Behörde, was natürlich Sinn des Spiels ist. "Wir befinden uns hier in keinem demokratischen Staat mehr", erklärt Niko Pfeil vom DRK-Team, der im Kaftan und mit Tuch um den Kopf entspannt in der Tür steht. "Die Kandidaten sollen begreifen, dass sie machtlos sind, dass wir die Fäden in der Hand haben und sie sich mit dieser klaren Hierarchie abfinden müssen."

Ein zerissenes Formular (Foto: DW/R. Arnold)
Anträge werden abgelehnt und zerissenBild: DW/R. Arnold

Flucht vor dem Bürgerkrieg

Nach zwei Stunden endet das Katz und Maus-Spiel abrupt, Rebellen überfallen das Camp. Schnell findet Familie Abokor zwei Fluchthelfer, wieder wechseln ein paar Dollar den Besitzer. Ihr Weg Richtung äthiopische Grenze führt über die Premsendorfer Hauptstraße, weiter auf einer Schotterpiste, vorbei an von Hunden bewachten Einfamilienhäusern und sachsen-anhaltinischen Kuhherden. Trotz surrealer Umgebung findet Daniela die Aktionen bislang ziemlich realistisch. "Ich bin mir schon jetzt ziemlich sicher, dass ich das nie in Wirklichkeit erleben will." Natürlich weiß sie auch, dass alles nur ein Spiel ist und ihr nichts passieren wird. "Aber die Worte der Aufseher, wie eben im Camp, reichen schon aus. Jetzt habe ich Angst, dass wir von der Armee oder Polizei verhaftet werden." Während die Gruppe in einen Wald läuft, wird es dunkel und beginnt zu regnen.

Niko Pfeil ist jetzt Fluchthelfer, er führt die Gruppe nach Äthiopien. Auch ihm ist klar, dass das hier nichts anderes sein kann als ein einfaches Rollenspiel. "Schon krass für deutsche Teenager, aber nicht sehr nah dran an der Wirklichkeit", meint er. Den Organisatoren gehe es vor allem um Sensibilisierungsarbeit, sie wollen die Jugendlichen so auf die Situation der unzähligen Flüchtlinge aufmerksam machen, die jeden Tag in vielen Teilen der Welt unterwegs sind. Bei "Youth on the run", so der Name des Spiels, gibt es klare Regeln. Kein Teilnehmer darf angefasst werden, es gibt keine Waffen und jeder hat die Möglichkeit, das Spiel sofort abzubrechen. "Es ist ein Rollenspiel, klar, aber die Teilnehmer sind tatsächlich einer starken Diskriminierung ausgesetzt, die sie so in ihrem wirklichen Leben wahrscheinlich noch nicht erlebt haben."

Grenzerfahrungen auf dem Weg nach Europa

Jugendliche stehen in eine Reihe mit gesenkten Köpfen (Foto: DW/R. Arnold)
"Das war nicht angenehm, und ich möchte das auch definitiv nicht noch einmal machen"Bild: DW/R. Arnold

Familie Abokor hat nun die Grenze erreicht. Minutenlang wird sie befragt, durchsucht und immer wieder beleidigt, muss niederknien, am Ende natürlich auch die Grenzer bezahlen. Dann darf die Gruppe passieren. Nach weiteren fünf Kilometern Fußmarsch landen sie im Flüchtlingscamp "No Hope", keine Hoffnung. Die haben auch Patricia und Sarah nicht mehr, sie brechen ab. Die eine ist umgeknickt, schafft es nicht mehr. Sarah hat Schmerzen und kann ebenfalls nicht mehr. Auch in einer zweiten Familie steigt eine Teilnehmerin aus, für alle anderen geht es weiter. In "No Hope" gibt es halbkalten Reis mit Paprika, nach zwei Stunden Ruhe, Punkt 21 Uhr, wird auch dieses Camp überfallen. Es beginnt die Nachtflucht, im Eiltempo geht es nach Europa. Fünf Grenzen überwindet Familie Abokor in drei Stunden: Syrien, Türkei, Albanien, Österreich, überall werden sie schikaniert, festgesetzt, weitergeschickt. Am Ende landen sie tatsächlich an der deutschen Grenze, sitzen nun in einem kleinen Raum im Jugendcamp. Knapp zehn Kilometer sind Daniela und die anderen durch die Nacht gelaufen, sie sehen fertig aus. "Einem von uns geht es ziemlich mies, und wir sind froh, endlich hier zu sein". Jetzt wollen sie einfach ein paar Stunden Schlaf.

Sie bekommen genau vier Stunden, dann holt sie die Polizei zum Verhör ab. Wie in Trance sitzen die Abokors vor den deutschen Beamten, geben Fingerabdrücke ab, beantworten widerwillig Fragen. Dann dürfen sie sich wieder hinlegen. Um kurz nach 8 Uhr ist die Nacht vorbei, eine weitere Stunde müssen die Familien noch warten, dann wird ihnen mitgeteilt, dass sie vorläufig Asyl bekommen. Die übrig gebliebenen 23 Teilnehmer sehen erleichtert aus. Mit Kleinbussen fahren sie vom Gelände Richtung Auffanglager, rollen durch kleine Ortschaften rund um Premsendorf. Noch wissen sie nicht, dass das Spiel gleich vorbei sein wird, sie ihre Handys und ihr altes Leben zurückbekommen und ein stattliches Frühstück im Camp. Kalid, also Julian, schaut aus dem Fenster, sein Blick ist müde und leer, die letzten 24 Stunden haben ihm zugesetzt. "Es war heftig, gestern Nacht durch die Kälte zu laufen war einfach irgendwann nicht mehr angenehm." Die Schuhe waren nass, jetzt tut ihm alles weh, weil er auf dem Boden schlafen musste. "Das war nicht angenehm, und ich möchte das auch definitiv nicht noch einmal machen." Und das Leben von Flüchtlingen, kann er das jetzt besser nachvollziehen? "Ich denke schon. Wir waren ständig unter Anspannung, das kann ich mir im normalen Flüchtlingsleben sehr gut vorstellen. Und für uns war es nur ein Tag, für die sind es Monate."

Jugendliche in Schlafsäcken (Foto: DW/R. Arnold)
Nach einem kurzen Verschnaufen kommt die PolizeiBild: DW/R. Arnold