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Filme aus Tschechien - Vergangenheitsbewältigung und Avantgarde

Jochen Kürten3. Dezember 2012

In den 1960er Jahren gab es in der damaligen ČSSR für ein paar Jahre einen künstlerischen Aufbruch. Auf der anderen Seite beschäftigten sich Regisseure in traditioneller Form mit der jüngeren Vergangenheit.

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Ivana Karbanová in einer Szene des Films "Tausendschönchen" von Věra Chytilová, Tschechien 1966 (Foto: DVD Anbieter Bildstörung)
Bild: Bildstörung/Filmove Studio Barrandov

Derzeit kann man sich in Deutschland gleich mit mehreren Facetten des tschechischen Kinos auseinandersetzen. Seit September touren gleich ein halbes Dutzend Filme aus Tschechien durch verschiedene deutsche Städte. Der Bundesverband kommunale Filmarbeit hat zusammen mit "Czech Film Center" ein Paket geschnürt, in dem sich die hiesigen Kinozuschauer mit einer Kinonation auseinandersetzen können, die im normalen Film-Alltag kaum eine Rolle spielt. Darüberhinaus bekommt man derzeit die seltene Gelegenheit, einen aktuellen tschechischen Film im regulären Spielplan der deutschen Kinos zu entdecken. In "3 Seasons in Hell" blickt Regisseur Tomás Masín zurück auf die ersten Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs und erzählt die Coming of Age-Geschichte eines jungen Literaten in stürmischen Zeiten. Des Weiteren liegen seit kurzem zwei wichtige Filme des tschechoslowakischen Kinos der 1960er Jahre auf DVD vor. Die Avantgarde-Perle "Tausendschönchen" von Věra Chytilová (1966) sowie "Das höhere Prinzip" aus dem Jahre 1960, der die Nazi-Verbrechen in der Folge des Attentates an Reinhard Heydrich schildert.

Szene aus dem tschechischen Film "3 Seasons" von Tomáš Mašín mit Krystof Hádek und Karolina Gruszka (Foto: Filmverleih "Eclipse")
"3 Seasons in Hell"Bild: Lucie Jansch/DAWSON

Grausame Rache

Es war eines der schlimmsten Verbrechen der deutschen Machthaber während des 2. Weltkriegs. Infolge der Ermordung des stellvertretenden "Reichsprotektors von Böhmen und Mähren", Reinhard Heydrich, durch tschechische Widerstandskämpfer, verübten SS-Truppen grausame Kriegsverbrechen. Heydrich hatte sich in den Monaten und Jahren zuvor als besonders kaltblütiger Vollstrecker der NS-Ideologie erwiesen. Bereits 1941 war er von Hermann Göring mit der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" beauftragt worden und hatte im Januar 1942 die Wannsee-Konferenz maßgeblich mitgeprägt. Ende Mai war er dann bei einem Attentat in Prag durch zwei tschechische Widerstandskämpfer so schwer verletzt worden, dass er Tage später verstarb. Die daraufhin folgenden Racheakte der deutschen Besatzer waren von äußerster Brutalität. Die Zerstörung des Dorfes Lidice und die Ermordung der Bewohner wurde zu einem düsteren Fanal des 2. Weltkriegs. Regisseur Jirí Krejcík erzählt in "Das höhere Prinzip" die Geschichte einer Abiturklasse, die in den Wochen nach dem Tod Heydrichs in die Geschehnisse hineingezogen wird. Krejcík siedelte seinen Film in einer südböhmischen Stadt an. Gezeigt werden - neben den Schülern - verschiedene Charaktere, die unterschiedlich mit den Repressionen der Deutschen umgehen. Im Mittelpunkt steht einer der Lehrer der Schüler, der sich, nach anfänglicher Zurückhaltung, gegen die Deutschen stellt und den Mord an Heydrich im Sinne eines "höheren Prinzips" rechtfertigt. Der Film ist konventionell in Szene gesetzt, aufgrund seiner emotionalen Verdichtung und vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse aber auch heute noch ungemein bewegend. Zudem ist er ein Zeitdokument, das einmal mehr in Erinnerung ruft, wie ganz Europa unter den brutalen Übergriffen der Deutschen zu leiden hatte.Explosion der Formen und der Farbe

Szene aus dem tschechischen Spielfilm "Das höhere Prinzip" von Jiří Krejčík (Foto: Ostalgica, DVD-Anbieter)
Ein Abiturient (Ivan Mistrík) wird in die Geschehnisse nach dem Heydrich-Attentat mithineingezogenBild: ostalgica
Szene aus dem tschechischen Spielfilm "Das höhere Prinzip" von Jiří Krejčík (Foto: Ostalgica, DVD-Anbieter)
Auch das Thema Kollaboration wird in "Das höhere Prinzip" behandeltBild: ostalgica

Mitte der 1960er Jahre setze in der ČSSR für ein paar Jahre ein künstlerisches Tauwetter ein. Die politische Liberalisierung im Lande erlaubte es den Filmemachern formale und inhaltliche Fesseln abzustreifen. Regisseure wie Jiří Menzel oder Miloš Forman sorgten dafür, dass man plötzlich auch im Westen auf die Filmnation ČSSR aufmerksam wurde. Menzels Oscar für seinen Film "Liebe nach Fahrplan" war 1968 sichtbarstes Zeichen für die revolutionäre Kinobewegung eines osteuropäischen Staates. Der filmische Aufbruch fand jedoch nach dem Einmarsch der russischen Truppen und der Niederschlagung des Prager Frühlings ein jähes Ende. Das formal avancierteste Werk dieser Erneuerungsbewegung war Věra Chytilová Film "Tausendschönchen".

Aus heutiger Sicht wirkt "Tausendschönchen" wie eine Mischung aus 60er Jahre-Happening auf Zelluloid, avantgardistischer Formenspielerei und Auflehnung gegen jedwede zentrale Steuerung. Auf eine narrative Handlung hatte Chytilová weitgehend verzichtet. Der Zuschauer verfolgt den Alltag zweier junger Frauen, Marie I und Marie II, deren Leben ausschließlich aus Spiel, Essen und Trinken, Streichen, Zerstörungsorgien, Nichtstun und Langeweile zu bestehen scheint. Die Filmemacherin hatte sich mit ihrer uferlosen Experimentierwut von den Normen sozialistischer Filmkunst zu befreien versucht.

Szene aus dem Film "Tausendschönchen" von Věra Chytilová, Tschechien 1966, mit Ivana Karbanová (Foto: Bildstörung, DVD Anbieter)
Rätselhafte Bilder, formale Experimente: "Tausendschönchen"Bild: Bildstörung/Filmove Studio Barrandov

Doch eine nur auf Auflehnung gegen die sozialistischen Machthaber angelehnte Interpretation von "Tausendschönchen" würde zu kurz führen. "Es handelt sich hier nicht um die Kritik an zwei jungen Mädchen, die extravagant und untypisch sind, sondern um die Kritik an einem Lebensstil, dem wir alle in unserer typischen und geordneten Leben bis zu einem gewissen Grad unterliegen", kommentierte die Regisseurin ihren Film vieldeutig. "Tausendschönchen", ein Schlüsselwerk der "Tschechischen Neuen Welle", besticht heute vor allem aufgrund seiner formalen Phantasie. Die Zensoren in Prag waren damals so irritiert, dass sie den Film verboten.

Szene aus dem film "Tausendschönchen" von Věra Chytilová, Tschechien 1966, mit Jitka Cerhová und Ivana Karbanová (Foto: DVD-Anbieter: Bildstörung/Filmove Studio Barrandov)
Marie I und Marie II (Jitka Cerhová und Ivana Karbanová) in "Tausendschönchen"Bild: Bildstörung/Filmove Studio Barrandov

Jirí Krejcík: Das höhere Prinzip, ČSSR 1960, DVD-Anbieter: Ostalgica; Věra Chytilová: Tausendschönchen, ČSSR 1966, DVD-Anbieter: Bildstörung. Die Reihe mit tschechischen Filmen tourt noch bis Mai 2013 durch verschiedene deutsche Städte. Im Filmangebot ist unter anderem Petr Nikolaevs Film "Lidice" (2011), der die Racheaktionen der Deutschen in dem Dorf Lidice aus der Perspektive dreier Personen schildert, deren Geschichte belegt ist.