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Farrell: "Ära der Scheinheiligkeit vorbei"

Interview: Nicole Goebel30. Oktober 2013

Demokratische Werte propagieren und gleichzeitig gegen sie verstoßen: Das können sich die USA im Zeitalter von WikiLeaks und Informanten wie Snowden nicht mehr leisten, sagt US-Politikexperte Henry Farrell.

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Bildnummer: 60652755 Datum: 05.06.2009 Copyright: imago/Robert Michael US - Praesident Barack Obama (li.) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach einer Pressekonferenz am Freitag (05.06.09) im Dresdner Schlosshof. Foto: robertmichaelphoto.de/Robert Michael People Politik xdp x0x 2009 quer Abgang Abhoeren Abhoerskandal Fahne Fahnen Format NSA Politik Praesident quer Querformat Symbolbild Symbolik umarmen sich Umarmung US Praesident USA USA Fahne von hinten 60652755 Date 05 06 2009 Copyright Imago Robert Michael U.S. President Barack Obama left and Chancellor Angela Merkel CDU after a Press conference at Friday 05 06 09 in Dresdner Schloßhof Photo de Robert Michael Celebrities politics XDP x0x 2009 horizontal Finish Flag Flags Format NSA politics President horizontal Landscape Symbol image Symbolism hug to Hug U.S. President USA USA Flag from rear
Bild: imago/Robert Michael

DW: Sie behaupten, die US-Außenpolitik basiere auf Scheinheiligkeit, wie meinen Sie das?

Henry Farrell: Scheinheiligkeit kann sehr nützlich sein. Sie gibt den USA die Möglichkeit, gewisse Normen zu propagieren, gegen die Washington aber gleichzeitig wieder verstößt. So hat man Dinge erreicht, die sonst eher schwierig gewesen wären. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der sogenannten "weichen Macht" Washingtons, also der Fähigkeit, andere Staaten ohne Militärgewalt oder wirtschaftliche Druckmittel auf seine Seite zu ziehen.

Nennen Sie uns ein Beispiel.

Die Nichtverbreitung von Atomwaffen ist ein gutes Beispiel. Die USA wissen ganz genau, dass Israel eine Nuklearmacht ist, aber offiziell wird das nicht bestätigt. Man sieht das auch daran, dass Indien und Pakistan auch praktisch als Nuklearmacht akzeptiert wurden, es gab zwar Proteste damals vom Weißen Haus, aber man war dann doch bereit, es als Fakt zu sehen.

Aber jetzt, wo Enthüllungen wie die von Snowden immer häufiger auftreten, wird es für die USA immer schwieriger, sich heuchlerisch zu verhalten.

Sind die USA als globale Supermacht besonders anfällig für diese Art Strategie und warum scheitern sie gerade jetzt damit?

Die USA sind sich meist nicht bewusst, dass oft eine große Diskrepanz besteht zwischen den sehr hehren Idealen, die sie vertreten und dem, was sie dann tatsächlich tun. Spricht man diesen Widerspruch an, spricht man in Washington stets von vorübergehenden Divergenzen. Politiker und auch US-Amerikaner generell verstehen oft wirklich nicht, warum Leute anderswo auf der Welt diesen Ansichten skeptisch oder sogar feindlich gegenüberstehen.

Und es ist diese Blase, die jetzt geplatzt ist. Dabei sind Informanten wie Snowden wie der kleine Junge, der dem Kaiser sagt, dass er nackt ist, während alle anderen zu viel Angst haben, ihn anzusprechen (in der Geschichte "Des Kaisers neue Kleider" – die Redaktion).

Wie wirkt sich das auf die Beziehungen der USA mit ihren Verbündeten aus?

Hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel nur privat herausgefunden, dass ihr Handy abgehört wurde, hätte sie es sicher nicht publik gemacht, sondern Zugeständnisse von Washington gefordert. Aber weil es an die Öffentlichkeit gelangte, sind sowohl die USA als auch Merkel in Zugzwang und verhalten sich ganz anders, als sie es sonst täten.

Was raten sie den USA, auch im Hinblick auf ihre selbst auferlegte Rolle als weltweites Vorbild für Demokratie und Freiheit?

Die Ära der Scheinheiligkeit ist vorbei. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Washington könnte seine Grundhaltung seinen Taten anpassen, also statt vorzugeben, dass man allen möglichen demokratischen und liberalen Idealen folgt, könnte man, wenn es im politischen Interesse des Landes ist, diese Normen außer Kraft setzen.

Das sehe ich aber als problematisch, da die USA global ein demokratisch-freiheitliches System geschaffen haben. Sie hätten es also nicht leicht, wenn andere Staaten plötzlich auch so agieren und die Prinzipien, die die USA aufgestellt haben und die ihnen auch oft politisch nützen, dann nur noch schwer aufrecht zu erhalten sind.

Welche Alternative sehen Sie?

Das Mindeste, was die US-Regierung tun könnte - und ich denke, das wird auch so kommen - ist damit aufzuhören, Verbündete abzuhören.

Aber die USA müssen auch weiter denken, der ganze Bereich der Privatsphäre des Einzelnen wird wichtiger. Bisher haben es die USA geschafft, mit der EU Abkommen über den Austausch von Daten im Bereich Finanzen und Luftfahrt abzuschließen, die die USA als absolut notwendig für ihre Sicherheit erachten. Wenn sie in Zukunft das Thema private Daten und Privatsphäre außer acht lassen, wird es für Washington wesentlich schwieriger werden, weitere Abkommen abzuschließen.

Schauen wir auf die Beziehungen mit Deutschland - das Abhören des Merkel-Handys löste hier Empörung und Unverständnis aus. Wird Berlin jetzt die Situation nutzen, um entschlossen seine eigenen Ziele voranzutreiben?

Die Deutschen wollen ein Abkommen, bei dem die USA und ihre Geheimdienste verstärkt mit Deutschland kooperieren und sich gleichzeitig bereit erklären, nicht innerhalb Deutschlands zu spionieren - es wäre also eine Version des Five-Eyes-Abkommens (Geheimdienstbündnis zum Austausch von Überwachungsdaten - die Redaktion), das die USA mit Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada abgeschlossen hat.

Das heißt also, das Five-Eyes-Abkommen ist Merkel wichtiger als der Schutz der Privatsphäre von deutschen Bürgern?

Merkel will unbedingt in den Five-Eyes-Klub, das ist ihr Hauptziel. Ob das reicht, um die deutsche Öffentlichkeit zufrieden zu stellen, hängt auch von denen ab, die sich wirklich für das Thema der Privatsphäre stark machen. Sie müssen Merkel in die Ecke drängen, damit sie sich stärker bei Obama dafür einsetzt, denn ihre persönlichen Instinkte sind eher konservativ, sie würde den USA auch beim Thema Geheimdienste eher entgegenkommen.

Gibt es in den USA einen politischen Konsens für Zugeständnisse dieser Art an Europa?

Es hat in den USA schon immer Widerstand gegeben - besonders unter Republikanern - gegen alles, was auch nur im Entferntesten so aussieht wie eine Zusammenarbeit dieser Art mit anderen Ländern. Aber es gibt eine interessante Entwicklung - die Vorsitzende des Geheimdienstauschusses im US-Senat, Dianne Feinstein, die die NSA bisher vehement verteidigt hat, sagt jetzt, dass die USA ihre Verbündeten nicht mehr ausspähen sollen.

Es gibt also in politischen Kreisen immer mehr Stimmen, die akzeptieren, dass die USA das Verhältnis mit ihren Verbündeten überdenken müssen.

Henry Farrell ist Dozent für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der George Washington Universität in Washington, USA. Seine Spezialgebiete sind Informationspolitik und die Beziehungen zwischen der EU und den USA.