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Dublin-Regel aussetzen?

Bernd Riegert9. Oktober 2014

Durchbruch oder nur ein neues Papier? Die EU-Innenminister wollen Flüchtlinge nach Quoten gerechter verteilen. Allerdings nur unter Bedingungen. Auch die Seenot-Rettung von Flüchtlingen soll eingeschränkt werden.

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Boot mit Flüchtlingen im Mittelmeer
Bild: picture-alliance/dpa/F. Lannino -S. Gabriele

Die Krisen in der Nachbarschaft Europas, in Syrien, Irak und Nordafrika haben zu einem starken Anwachsen der Flüchtlingszahlen in der EU geführt. "So viele Flüchtlinge wie heute gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maiziere beim Treffen mit seinen europäischen Kollegen in Luxemburg. Fünf Länder der EU, darunter Deutschland, nehmen laut der Statistikbehörde Eurostat zurzeit 75 Prozent der Flüchtlinge in Europa auf. Das könne so nicht bleiben. Da sind sich Innenminister de Maiziere und die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström einig. "Alle Länder müssen Verantwortung übernehmen. Heute nimmt nur die Hälfte der EU-Staaten Flüchtlinge auf. Es müssten aber alle 28 Staaten selber Flüchtlinge aufnehmen oder von anderen EU-Staaten, die besonders belastet sind, übernehmen", sagte Malmström.

Auf Vorschlag Frankreichs, Deutschlands und Italiens beschlossen die Innenminister eine Reihe von Maßnahmen, um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren und sie besser in Europa zu verteilen. "Damit haben wir eine verbindliche Verpflichtungserklärung für uns alle, wie wir in den nächsten Wochen und Monaten mit dem Thema der illegalen Migration und Flüchtlingen umgehen wollen", sagte Thomas de Maiziere in Luxemburg. Das sei ein großer Erfolg. Der Minister schränkte aber gleich ein, "dass das natürlich noch in Realität umgesetzt werden muss. Das ist sehr, sehr schwierig angesichts der Umstände."

Kritik an Schlamperei in Italien

Die Skepsis ist berechtigt, denn schon oft haben die EU-Innenminister Reformen bei der Flüchtlingspolitik beschlossen, die dann im Sande verliefen. Nun soll zusammen mit den Nachbarländern, vor allem Libyen, "entschlossen" gegen Schleuserbanden vorgegangen werden, die den verzweifelten Flüchtlingen bis zu 10.000 Euro für die Überfahrt über das Mittelmeer abknöpfen. Alle EU-Staaten sollen ankommende Flüchtlinge mit Fingerabdrücken registrieren und diese nicht einfach in andere Länder der Schengen-Zone ohne Grenzkontrollen weiterreisen lassen. Diese schon lange geltende Regel unterläuft nach deutscher Einschätzung im Moment hauptsächlich Italien.

Auch der Flüchtlingsdienst der Jesuiten, eine Hilfsorganisation in Brüssel, kritisierte in dieser Woche, dass Italien sich nicht ausreichend um Migranten kümmere und sie einfach untertauchen oder weiterreisen lasse. Innenminister de Maiziere will den südlichen Staaten der EU Ausrüstung und Personal ausleihen. "Wir bieten Italien und andere Staaten Hilfe an bei der Aufnahme in Form von Geräten und Beamten, um entsprechende Registrierungen vorzunehmen. So wie die Lage jetzt ist, kann sie nicht weitergehen", sagte de Maiziere. Allerdings, heißt es von EU-Diplomaten, habe Italien auf entsprechende bereits oft gemachte Angebote nie reagiert. Für die bessere Unterbringung und Aufnahme von Flüchtlinge habe Italien Hunderte Millionen Euro von der EU erhalten. Das Geld sei irgendwo versickert.

Deutschland erstmals zu Quotenregelung unter Bedingungen bereit

Wenn alle Länder die Flüchtlinge ordentlich registrierten und damit ein Überblick über die wahren Belastungen möglich ist, ist Bundesinnenminister Thomas de Maiziere erstmals bereit, die Regeln des Dubliner Abkommens außer Kraft zu setzen. Der Dublin-Vertrag sieht vor, dass Flüchtlinge in dem Land bleiben müssen, in dem sie die EU zum ersten Mal betreten. Jetzt kann sich de Maiziere angesichts der großen Flüchtlingszahlen eine Verteilung der Menschen nach festgelegten Quoten vorstellen. "Das ist heute rechtlich nicht vorgesehen. Deshalb müsste das freiwillig geschehen und sicherlich auch zeitlich befristet. Wir müssen uns verständigen auf Aufnahmequoten, etwa nach Einwohnern. Dann müssten wir dafür sorgen, dass Länder, die über einer solchen Quote sind, entlastet werden. Die Länder unter der Quote würden Flüchtlinge zugeteilt bekommen und die dann auch entsprechend aufnehmen."

Thomas de Maiziere
Innenminister de Maiziere: "Das kann so nicht bleiben"Bild: imago/Jens Schicke

Ein Jahr "Mare Nostrum"

Die meisten Hilfsorganisationen wie Amnesty International oder Pro Asyl fordern schon seit Jahren einen Quotenregelung für die Verteilung von Flüchtlingen. Ob Deutschland mit einer Quote mehr oder weniger Flüchtlinge aufnehmen müsste als heute, konnte der Innenminister nicht sagen. "Das hängt natürlich von einem Verteilungsschlüssel ab." Italien, das in diesem Jahr bereits über 100.000 Flüchtlinge mit der Marine-Operation "Mare Nostrum" aus dem Mittelmeer gefischt hat, verspricht sich eine Entlastung. Nach Bevölkerungsgröße gerechnet nehmen heute Schweden und Malta die meisten Flüchtlinge auf. Schlusslichter sind Portugal und Polen. Eine Verteilung der Flüchtlinge müsse "leider freiwillig geschehen", sagte Cecilia Malmström. "Wir haben Geld, politischen Druck und Worte zur Verfügung. Aber wir können die Mitgliedsstaaten nicht zwingen, sondern nur hoffen, dass jeder seine Verantwortung spürt."

"Triton" statt "Mare Nostrum"

Die EU hat beschlossen, vom ersten November an eine neue "Such- und Rettungsoperation" im Mittelmeer rund um die Küsten Italiens zu starten. Die nach einem griechischen Meeresgott "Triton" getaufte Operation soll drei Schiffe und zwei Überwachungsflugzeuge umfassen. Sie könnte die größere italienische Operation "Mare Nostrum" ablösen, die Italien vor einem Jahr nach einer schweren Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa gestartet hatte. Die Aktion will der italienische Innenminister Angelino Alfano so schnell wie möglich beenden, weil ihm die monatlich neun Millionen Euro an Kosten zu hoch sind. "Triton" soll nur noch vor der Küste Italiens kreuzen und nicht mehr bis in libysche Hoheitsgewässer fahren, um bereits dort überfüllte Flüchtlingsboote abzufangen. Die Menschenrechts-Organisation "Pro Asyl" nannte die geplanten Einschränkungen dramatisch. Die EU ziehe neue Festungsmauern hoch und riskiere ein neues Massensterben von Flüchtlingen. Statt einer Verkleinerung von "Mare Nostrum" sei ein umfassender Seenot-Rettungsdienst auf dem gesamten Mittelmeer nötig.

Angelino Alfano und Cecilia Malmström
Italiens Innenminister Alfano und EU-Kommissarin MalmströmBild: DW/B. Riegert

De Maiziere kritisiert "Mare Nostrum"

Bundesinnenminister de Maiziere und viele seiner europäischen Kollegen sehen das anders. Für sie hat "Mare Nostrum" zwar Leben gerettet, aber auch den Schleuserbanden ein perfektes Geschäftsmodell geliefert. Mit der Gewissheit, dass sie von italienischen Schiffen aufgenommen werden, steigen in Libyen Tausende Flüchtlinge in die Boote, mehr als je zuvor. Es soll sogar "Flüchtlings-Apps" für Mobil-Telefone geben, auf denen eine Art Fahrplan für die Schlepperkähne abgerufen werden kann. "Mare Nostrum" war als Nothilfe gedacht und habe sich als eine Brücke nach Europa erwiesen mit über 100.000 Menschen, die über das Mittelmeer, insbesondere Libyen, gekommen seien, kritisierte Innenminister de Maiziere "Schlepper verdienen daran Milliarden-Beträge. Es hat 3000 Tote gegeben. Wir wollen das beenden. Wir wollen stärker mit den Herkunftsländern arbeiten und die Zahl der illegalen Flüchtlinge so reduzieren", sagte de Maiziere der Deutschen Welle.

Italien Flüchtlinge gerettet 8.6.2014
Italienische Küstenwache nimmt Flüchtlinge auf: Wie lange noch?Bild: picture alliance/dpa

Die teilweise offene Kritik an den südlichen EU-Ländern und ihren mangelhaften Asylverfahren wies ein griechischer Diplomat zurück. Schließlich kämen in Bulgarien, Italien und Griechenland die meisten Menschen an. Man sei schlicht überfordert, so der Diplomat weiter. "Schauen Sie sich unsere 16.500 Seemeilen an Grenze und unsere 6000 Inseln an und dann zeigen Sie mir, wer angesichts unserer Wirtschaftskrise mit den Herausforderungen besser umgegangen wäre. So jemanden gibt es nicht. Und das weiß Europa, wenn es realistisch ist. Die Lage entwickelt sich und verschlechtert sich. Wir sollten mit den Ländern im Süden reden und ihnen den Rücken stärken."