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Erinnerung und Aussöhnung in Kambodscha

Robert Carmichael2. Oktober 2014

Ist Aussöhnung in Kambodscha nach der Terrorherrschaft der Roten Khmer möglich? In Projekten wird versucht, Opfern und Tätern eine gemeinsame Sicht auf die Vergangenheit zu ermöglichen.

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Kerze in "Pagode der Schädel" in Phnom Penh (Foto: DW/Carmichael)
Bild: DW/R. Carmichael

2011 begannen zwei kambodschanische Organisationen mit einem Projekt, um Bewohner zweier benachbarter Dörfer in der südlichen Provinz Kampot miteinander zu versöhnen. Zwei Frauen in dem einen Dorf waren der Überzeugung, dass ein Mann aus dem Nachbardorf ihren Vater beziehungsweise Ehemann entführt und umgebracht hat, als er ein Mitglied der Roten Khmer während ihrer Terrorherrschaft in den 70er Jahren war.

30 Jahre lang hatten die Frauen mit dem Mann nicht gesprochen. Aber es ging nicht nur um das belastete Verhältnis dieser drei Personen: Das Dorf mit den beiden Frauen war wohlhabender als das Nachbardorf und in der Ideologie der Roten Khmer legitimes Ziel für Verfolgungsmaßnahmen durch das ärmere Dorf. Viele Bewohner kamen ums Leben.

Ziel des Projekts sei es außerdem gewesen, Erkenntnisse über den Prozess der Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern zu gewinnen, erklärt Tim Minea von Kdei Karuna, einer der an dem Projekt beteiligten Organisationen.

"Zu Beginn fragte ich eine der beiden Frauen: 'Möchten Sie ihn treffen?' Sie antwortete: 'Ich will ihn nicht sehen, nicht mal seinen Fußabdruck'."

Filmprojekt für Aussöhnung

Kdei Karuna dokumentierte das sechs Monate dauernde Projekt in einem Film, wobei die drei Beteiligten anonym bleiben. Die beiden Frauen heißen einfach "Großmutter" und "Tante", der Mann "Großvater." Am Anfang forderten "Großmutter" und "Tante", dass "Großvater" sich dafür entschuldigt, ihnen ihren Mann beziehungsweise Vater weggenommen und einem sicheren Tod zugeführt zu haben.

Nachgestellte Gewalttaten der Roten Khmer (Foto: DW/Carmichael)
Nachgestellte Gewalttaten der Roten KhmerBild: DW/R. Carmichael

Eine solche Entschuldigung war aber wegen Gesichtsverlustes nicht zu erwarten. Deshalb entschlossen sich Kdei Karuna und TPO, die führende kambodschanische NGO auf dem Gebiet psychologischer Entwicklungsarbeit, zu einem Umweg: Zunächst wurde ein Gespräch der beiden Frauen gefilmt, und dieses Video wurde dann "Großvater" gezeigt, dessen Reaktionen dann ebenfalls gefilmt und den Frauen vorgeführt wurden. Dieses Verfahren wurde über mehrere Monate verteilt durchgeführt.

Schließlich räumte "Großvater" ein, dass seine Handlungsweise als junger Kader der Roten Khmer den Frauen Leid verursacht hat. Allerdings habe die Brutalität des Regimes ihn vor die Wahl gestellt, zu gehorchen oder zu sterben. Auch habe er die Männer nicht getötet. An die Frauen gerichtet sagte er: "Bitte seid nicht zornig auf mich. Sie befahlen mir, diese Dinge zu tun. Ich bin nicht sehr schlau und ich wusste nicht, was ich tun sollte." Tim Minea sagt, dass "Großmutter" und "Tante" schließlich von der Reue des Ex-Roten-Khmers überzeugt waren, und dass sein Versprechen, er wolle für die Seelen der Ermordeten beten, sie beeindruckt hat.

Rachegefühle

Noch heute leben in Kambodscha viele Dorfbewohner in enger Nachbarschaft mit den Mördern ihrer engsten Angehörigen. Trotz der buddhistischen Betonung der Vergebung finden viele es schwer zu ertragen, dass die Schuldigen sich frei bewegen können und zum Teil politische Ämter bekleiden. Zwei Drittel der Kambodschaner wünschten sich, dass die Täter "Schmerzen oder Elend" litten, ein Drittel würde persönlich Rache üben, wenn sie es nur könnten. So das Ergebnis einer Befragung, die das Menschenrechtszentrum der University of California (Berkeley) 2011 durchgeführt hat.

Betende in Pagode (Foto: DW/Carmichael)
Beten für die Seelen der Verstorbenen hat einen hohen Stellenwert in KambodschaBild: DW/R. Carmichael

Aber Kambodscha könnte selbst beim besten Willen – der nicht vorauszusetzen ist - nicht alle Täter strafrechtlich verfolgen. Eine Handvoll hochrangiger und überlebender Verantwortlicher der Roten Khmer muss sich seit 2006 gegenüber dem Kriegsverbrechertribunal in Phnom Penh verantworten. Aber die meisten Mörder sind straflos davongekommen.

Beim Thema Aussöhnung "haben wir noch einen langen Weg vor uns", sagt Ly Sok Kheang vom Kambodschanischen Dokumentationszentrum (DC-Cam) gegenüber der DW. Aber die meisten Kambodschaner würden inzwischen einsehen, dass nicht alle Täter ihrer gerechten Strafe zugeführt werden könnten. Viele würden sich damit trösten, dass immerhin die beiden überlebenden Führer der Roten Khmer vor kurzem zu lebenslänglich verurteilt wurden. "Das war sehr wichtig für die Menschen, sie wollten, dass diese Ex-Führer verurteilt werden. Das war für die Menschen wichtig, um mit dem Trauma umgehen zu können."

Interesse der Regierungspartei

Es gibt im Übrigen offizielle Feiertage zum Gedenken an den Khmer-Rouge-Terror wie den "Tag des Sieges über den Völkermord" am 7. Januar und "Tag der Erinnerung" (früher "Tag der Wut") am 20. Mai. Am letztgenannten Datum stellen schwarz gekleidete Schauspieler auf den "killing fields" am Stadtrand Phnom Penhs Massenexekutionen von Männern, Frauen und Kindern nach – nicht unbedingt eine Aufführung unter dem Vorzeichen "Versöhnung", wie auch Ly Sok Kheang von DC-Cam einräumt. Solche Aufführungen dienen der Legitimierung der Dauer-Regierungspartei Kambodschanische Volkspartei unter Premier Hun Sen, der 1979 mit Hilfe Vietnams die Herrschaft der Roten Khmer beendete, obwohl er zeitweilig selbst Khmer-Rouge-Mitglied war.

Kambodscha Ministerpräsident Hun Sen (Foto: Picture alliance/dpa)
Kambodschas Dauer-Premier Hun Sen hat seine eigene Agenda bei der AufarbeitungBild: picture-alliance/dpa

Dennoch seien solche Gedenktage und Aufführungen wichtig, damit die Menschen über ihr Leid sprechen können, sagt Sok Kheang. Er spricht sich für eine gemeinsame "Opferperspektive" aus, die auch die früheren Täter mit einschließen soll. Ein schlichtes Gut-Böse-Schema helfe nicht weiter. "Die früheren Khmer-Rouge-Mitglieder sehen sich auch als Opfer, denn sie alle haben ebenfalls Angehörige verloren."

Geringe Ressourcen für Versöhnungsprojekte

Sok Kheang sagt, man müsse noch mehr über den Prozess der Aussöhnung herausfinden, und mehr für die Aufklärung der Jugendlichen über die Vergangenheit tun. Es gibt bereits ein angesehenes Schulbuch zu dem Thema, das von DC-Cam mit Unterstützung ausländischer Geber konzipiert wurde.

Besucher im Gericht vor der Urteilsverkündung gegen Khieu Samphan und Nuon Chea)
Für viele Kambodschaner war das Urteil des Völkermordtribunals gegen zwei Ex-Führer der Roten Khmer von großer BedeutungBild: Reuters

Insgesamt steht jedoch wenig Geld für Projekte mit dem Ziel der Aussöhnung in Kambodscha zur Verfügung. Das habe "für die Geber keine Priorität", sagt Sonja Meyer von der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die als Beraterin für Kdei Karuna tätig ist. Experten gehen davon aus, dass in den Bereich – außer für das Völkermordtribunal – weniger als zwei Millionen US-Dollar jährlich fließen, das meiste davon aus den USA und Deutschland, bei einem verschwindend geringen Beitrag Kambodschas.

Die Geschichten der Betroffenen

Ein kostspieliges Projekt wie das in der Provinz Kampot wird sich so schnell nicht wiederholen. Deshalb hat Kdei Karuna den ganzen Prozess in einem Film dokumentiert, der in anderen Dörfern vorgeführt werden soll. Er ist Teil einer Wanderausstellung, darunter inter-aktive Theateraufführungen, die in die kambodschanischen Provinzen reisen soll. Tim Minea hofft, damit den Versöhnungsprozess auf örtlicher Ebene voranbringen zu können, etwa indem Überlebende ihre Erinnerungen aufschreiben und die jungen Leute die Alten auffordern, über die Vergangenheit zu berichten.

"Wir wollen, dass sich die Menschen auf dem Land aus eigenem Antrieb mit dem Thema befassen, wir brauchen ihre Geschichten", sagt Tim Minea. "Wenn das der staatlichen Geschichtsschreibung überlassen bleibt, und die Menschen sich nicht unabhängig informieren können, dann wird es schwer, dieses Land voranzubringen."