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Erfolgsmodell mit ungewisser Zukunft

Helena Kaschel22. März 2013

Eine Bonner Schule versucht, das Ideal der Inklusion zu vorzuleben - mit Erfolg. Im Gemeinsamen Unterricht lernen Schüler mit und ohne Behinderung zusammen. Ob das Konzept eine Zukunft hat, ist trotzdem unklar.

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Ein Junge in einem Rollstuhl nimmt am Unterricht teil (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

In der 7a der Integrierten Gesamtschule Bonn-Beuel ist die Konzentration fast mit Händen zu greifen. Die Unterrichtsstunde beginnt mit kurzen Vorträgen einzelner Schülerinnen und Schüler: Dreisatz, Grundwert, Dezimalzahlen. Tim (Name geändert) erklärt an der Tafel den Begriff "Promille". "Und wofür braucht man das?", fragt ein Mitschüler. "Na, um auszurechnen, wie viel Alkohol man im Blut hat“, sagt Tim selbstbewusst. Dann greifen seine Hände wieder zu den Rädern links und rechts.

In der Klasse mit 26 Schülern ist er der Einzige, der im Rollstuhl sitzt, aber einer von insgesamt sechs Kindern mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten. "Tim braucht intellektuell keinerlei Unterstützung, nur manchmal körperliche Hilfestellungen. Dafür hat er eine Schulbegleitung", erklärt Mathematiklehrer und Leiter der Didaktik Thomas Wingenroth.

Ein Schüler im Rollstuhl sitzt in seiner Klasse der Gesamtschule Bonn-Beuel. (Foto: Helena Kaschel)
An der IGS werden Schüler mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten aufgenommenBild: DW/H. Kaschel

Teamunterricht als Schlüssel zum Erfolg

Für insgesamt 90 Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen stehen der Schule 14 Sonderpädagogen zur Verfügung. Unterrichtet wird zu zweit: eine Fach- und eine Sonderlehrkraft arbeiten gemeinsam mit der gesamten Klasse. Das sogenannte "Teamteaching" ist die wichtigste Zutat im Erfolgsrezept der Gesamtschule, die in den letzten Jahren mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. "Die optimale Umsetzung von Inklusion geht nur über diese Doppelbesetzung", meint Schulleiter Stefan Ludwig. Das sei auch von wissenschaftlicher Seite bestätigt.

Bereits seit 27 Jahren gibt es hier pro Jahrgang mindestens eine so genannte Integrationsklasse, inzwischen sind es sogar drei. Fachlehrer Thomas Wingenroth und Sonderpädagoge Thomas Mauermann sind während des Matheunterrichts beide gleichermaßen für alle Kinder Ansprechpartner. So sind sie nicht nur für die Schüler dauerhafte Bezugspersonen, sondern entlasten einander auch gegenseitig.

Der Sonderpädagoge Thomas Wingenroth und Mathematiklehrer Thomas Mauermann unterrichten gemeinsam die Integrationsklasse an der Gesamtschule Bonn-Beuel. (Foto: Helena Kaschel)
Sonderpädagoge Thomas Mauermann (links) und Mathematiklehrer Thomas Wingenroth beim TeamteachingBild: DW/H. Kaschel

Kein Förderschwerpunkt ausgeschlossen

Strenger Frontalunterricht, bei dem der Lehrer an der Tafel erklärt und die Schüler zuhören, scheint hier ein Relikt der Vergangenheit zu sein: In der 7a wird nach den Referaten die Sitzordnung teilweise aufgelöst, Schüler gehen mit ihren Arbeitsblättern ein und aus – und als Beobachter verliert man bald aus den Augen, wer hier "anders" ist und wer "normal". Nicht jede Behinderung ist sichtbar: Neben körperlichen Behinderungen wie bei Tim gibt es auch Schüler mit starken Lernbehinderungen oder Formen von Autismus.

Lisa (Name geändert), die in der ersten Reihe sitzt, hat das Downsyndrom. Während die meisten ihrer Freunde mit Prozentzahlen beschäftigt sind, macht sie in ihrem eigenen Tempo Fortschritte bei einfacheren Rechenmethoden, lernt das Dividieren und Multiplizieren. Durch die Einteilung in drei verschiedene Lern-Niveaus sowie durch Grund- und Erweiterungsaufgaben in Klassenarbeiten werden Leistungen trotz individueller Förderung vergleichbar.

Leistungsstärker durch Inklusion

Das Projekt "Gemeinsamer Unterricht" wurde an der Bonner Gesamtschule von Anfang an wissenschaftlich begleitet. Studien haben ergeben, dass auch leistungsstarke Schüler davon profitieren. "Die Schüler in den Integrationsklassen sind nicht nur auf der sozial-emotionalen Ebene sehr weit, sondern erzielen teilweise auch bessere Leistungen, weil sich ihnen vieles intensiver einprägt, wenn sie den schwächeren Schülern etwas erklären", sagt Wingenroth.

Irgendwo stößt der Traum von der "Schule für alle" jedoch an Grenzen. Schulleiter Stefan Ludwig betont, man sei trotz des erfolgreichen Konzepts noch nicht am Ziel Inklusion angekommen. Gerne wäre man auch materiell besser ausgestattet. Mit ein paar Rampen ist die Gesamtschule noch nicht komplett barrierefrei. Es fehlen Ruhe-, Pflege- und Therapieräume. Doch daran ist zunächst nicht zu denken – es gibt Personalprobleme.

Die Innenräume der Gesamtschule Bonn-Beuel sind zwar hell und freundlich, aber nicht barrierefrei. (Foto: Helena Kaschel)
Bunt und (fast) barrierefrei: die Integrierte Gesamtschule Bonn-BeuelBild: DW/H. Kaschel

Visionen trotz ungewisser Zukunft

"Unsere personelle Aufstellung, die eine Doppelbesetzung in jeder Integrationsklasse ermöglicht, wird gerade massiv abgebaut. Wir haben seit 2012 eine integrative Lerngruppe mehr, ich bekomme aber dieses Jahr weniger Stellen dafür", erklärt Ludwig – ein Problem, das die Zukunft von qualitativ hochwertigem Gemeinsamem Unterricht gefährdet. Eine Vision hat er trotzdem: "Inklusion ist dann gelungen, wenn man darunter nicht die Integration von Behinderten versteht, sondern, dass alle jungen Menschen sehr unterschiedlich sind und dass eine Schule im Rahmen des Möglichen auf diese Unterschiedlichkeit eingeht."

In der 7a kommen die letzten Schüler vom Flur wieder in die Klasse zurück. Sie selbst – die, auf die es ankommt – scheinen den Gemeinsamen Unterricht als Bereicherung zu empfinden. "Man lernt schon ganz früh, miteinander und den Unterschieden umzugehen. Das können viele Erwachsene nicht", sagt ein Mädchen. Fragt man in die Runde, ob sie noch einen Unterschied machen zwischen den "Anderen" und den "Normalen", erntet man freundliches Kopfschütteln. "Jeder von uns braucht Hilfe, jeder hat seine Schwächen. Es gibt keinen, der alles kann."