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Erdogan geht überraschend auf Armenier zu

Thomas Seibert, Istanbul24. April 2014

Die Beileidserklärung des türkischen Premiers an die Armenier signalisiert eine Abkehr von der bisherigen Haltung des Landes zu dem schwierigen Kapitel der Geschichte. Experten sehen darin ein "taktisches Spiel".

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Türkische Menschenrechtsaktivisten erinnern an Armenien-Völkermord (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Die Erklärung kam für die türkische und internationale Öffentlichkeit überraschend, war von der Regierung aber sorgfältig vorbereitet worden. So wurde der Text des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in insgesamt neun Sprachen verbreitet, darunter auf Ostarmenisch, der Amtssprache in Armenien, und Westarmenisch, der Sprache vieler Armenier in der Diaspora.

"Wie bei allen Bürgern des Osmanischen Reiches ist es eine menschliche Pflicht, auch das Gedenken der Armenier an die Erinnerung an das Leid, das die Armenier zu jener Zeit durchlebt haben, zu verstehen und es mit ihnen zu teilen", erklärte Erdogan wörtlich in der deutschen Version des Textes.

"Unmenschliche Folgen"

Die von der osmanischen Reichsregierung angeordneten Deportationen der Armenier, die am 24. April 1915 begannen, hätten "unmenschliche Folgen" gehabt, betonte Erdogan. Den Nachfahren der Opfer sprach er ausdrücklich sein Beileid aus. Noch nie ist ein führender türkischer Politiker so nahe an eine förmliche Entschuldigung für die Verbrechen gekommen.

Porträt des türkischen Premiers Erdogan (Foto: RIA Novosti)
Erdogan sprach den Nachfahren der Opfer sein Beileid ausBild: picture-alliance/RIA Novosti/dpa

Zugleich machte Erdogan deutlich, dass die moderne Türkei den Vorwurf des Völkermords toleriert, auch wenn sie ihn nicht teilt. Er unterstrich, "dass in der Türkei unterschiedliche Meinungen und Gedanken zu den Ereignissen von 1915 frei geäußert werden". Noch vor wenigen Jahren war Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen der Forderung nach einer Anerkennung des Genozids vor Gericht gestellt worden.

Neue Haltung Ankaras

Bei Todesmärschen und Massakern von 1915 bis 1917 starben bis zu 1,5 Millionen Armenier. Die Türkei lehnt die Einstufung der Verbrechen als Völkermord ab. Mit Erdogans Erklärung gesteht sie nun aber zum ersten Mal die Unmenschlichkeit der Deportationen von 1915 ein und erkennt den Schmerz der Armenier an, ohne den damaligen Opfern eine Mitschuld am eigenen Leid zu geben, was bisher zur offiziellen Linie gehört hatte.

Erdogans Text definiere ab sofort die türkische Haltung, unabhängig von den Motiven des Ministerpräsidenten, erklärt der renommierte türkische Journalist Yavuz Baydar, Mitbegründer der unabhängigen Medien-Plattform P24 in der Türkei, im Gespräch mit der DW: "Das Gesagte kann nicht mehr ungesagt gemacht werden."

Yavuz Baydar, Journalist aus der Türkei (Foto: privat)
Journalist Baydar: "Die dunklen Erinnerungen werden nicht verschwinden"Bild: privat

Seiner Meinung nach ist die Initiative des Premiers eine Mischung aus einem grundsätzlichen Neuanfang in der Armenier-Frage und taktischen Überlegungen. "Ein Optimist würde sagen, die Erklärung steht für den langsamen Weg zur Anerkennung des Völkermordes", so Baydar. "Ein Pessimist würde sagen, Erdogan spielt ein geschicktes taktisches Spiel, um den Druck auf Ankara mit Blick auf den hundertsten Jahrestag zu verringern. Ich glaube, es ist beides."

"Reine Taktik" vor der Präsidentschaftswahl?

Erdogan sei sich bewusst, dass die internationalen Forderungen nach einer Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei im Vorfeld des 100. Jahrestages 2015 erheblich zunehmen würden, sagt Baydar. "Die dunklen Erinnerungen werden nicht verschwinden - und Ankara weiß das."

Dimitrios Triantaphyllou, griechischer Politologe an der Istanbuler Kadir-Has-Universität, geht davon aus, dass Erdogan mit seiner Erklärung nicht nur die internationale Gemeinschaft im Blick hatte, sondern auch die türkische Innenpolitik. "Es ist zwar gut, dass er es gesagt hat, aber ich glaube, es war reine Taktik", sagt Triantaphyllou im Gespräch mit der DW. "Möglicherweise will er mit der Geste seine Wählerbasis vor der Präsidentenwahl erweitern."

Nationalisten sind empört

In der türkischen Öffentlichkeit wird allgemein erwartet, dass sich der 60-jährige Erdogan im August um das höchste Staatsamt bewerben wird. Für einen Wahlerfolg in der ersten Runde braucht er mindestens 50 Prozent der Stimmen - und damit mehr als die rund 45 Prozent, die seine Regierungspartei AKP vor kurzem bei der Kommunalwahl erreichte. Die Stimmen liberaler Türken und der rund 80.000 Armenier in der Türkei könnten ihm durchaus helfen.

Die Nationalistenpartei MHP, die noch nach einem eigenen Kandidaten für die Präsidentenwahl sucht, reagierte empört auf Erdogans Armenier-Erklärung. Der Text sei unpatriotisch und bediene sich bei der Beschreibung der ethnischen Vielfalt der Türkei einer Wortwahl, die an den inhaftierten kurdischen Rebellenführer Abdullah Öcalan erinnere, schimpfte MHP-Chef Devlet Bahceli.

Die Republikanische Volkspartei (CHP) reagierte vorsichtiger, warf Erdogan aber vor, das Armenier-Thema politisch instrumentalisieren zu wollen: Es sei bedenklich, dass der seit mehr als zehn Jahren regierende Ministerpräsident seine Erklärung ausgerechnet in diesem Jahr veröffentlicht habe, erklärte CHP-Politiker Faruk Logoglu im Hinblick auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl. Unterdessen rief die Kurdenpartei BDP den Ministerpräsidenten auf, noch einen Schritt weiter zu gehen: Der türkische Staat solle sich bei den Armeniern offiziell entschuldigen.