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Alevitische Lehre als Signal an die Türkei

Andreas Gorzewski20. Mai 2014

Erstmals können in Deutschland regulär Religionslehrer für die über 500.000 Aleviten ausgebildet werden. Aleviten sehen das als Signal an die Türkei. Dort kämpft die Religionsgemeinschaft weiter um Anerkennung.

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Ein Lehrer unterrichtet alevitischen Religionsunterricht in Hanau (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Für Vertreter der alevitischen Religionsgemeinschaft findet im württembergischen Weingarten in diesem Studienjahr eine Art Weltpremiere statt. Dort können sich zum ersten Mal Religionslehrer für die aus Anatolien stammende Glaubenstradition ausbilden lassen. Die Stuttgarter Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) gab nun offiziell den Startschuss für den Studiengang, der seit einigen Monaten an der Pädagogischen Hochschule Weingarten läuft. "Das ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Aleviten überhaupt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit", betont Yilmaz Kahraman. Er ist Bildungsbeauftragter des Dachverbandes Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF). Obwohl in der Türkei 15 bis 25 Millionen Aleviten leben, gibt es dort weder einen Religionsunterricht noch eine Religionslehrerausbildung für sie. In Deutschland lebt mehr als eine halbe Million Aleviten.

Die Lehrerqualifikation in Deutschland hinkt dem Religionsunterricht hinterher. In Baden-Württemberg steht das Schulfach bereits seit 2006 auf dem Stundenplan, in Nordrhein-Westfalen und Bayern seit 2008. Andere Bundesländer folgten. Alevitischer Religionsunterricht wird auf Deutsch gehalten und ist wie evangelischer oder katholischer Religionsunterricht versetzungsrelevant. Die Lehrer dafür sind bislang Aleviten, die eigentlich andere Schulfächer unterrichten. Sie wurden von der AABF in Wochenendseminaren auf das zusätzliche Fach vorbereitet. Mittlerweile hat die Hochschule Weingarten nach zweijähriger Pilotphase den regulären Erweiterungsstudiengang begonnen.

Einige Hürden für alevitische Kurse

Derzeit besuchen bundesweit etwa 1200 Grundschüler das Fach. Es könnten Kahraman zufolge deutlich mehr sein, wenn es nicht einige Hürden gäbe. "Manchmal kommt ein Kurs für den alevitischen Religionsunterricht zusammen, aber in der Stadt gibt es keine Lehrkraft", sagt der AABF-Vertreter im DW-Gespräch. In anderen Fällen werde die erforderlich Mindestzahl von Schülern für einen Kurs nicht erreicht. Je nach Bundesland verlangen die Schulbehörden, dass wenigstens zehn bis zwölf Schulkinder angemeldet werden.

Die alevitische Lehre entstand seit dem Mittelalter als eine Art Geheimreligion. Dabei vermischten sich verschiedene religiöse Einflüsse. Der Name Alevitentum leitet sich von Ali, dem Schwiegersohn des islamischen Propheten Mohammed ab. Die Glaubensansichten und Riten unterscheiden sich in so vielen Punkten vom Islam, dass umstritten ist, ob Aleviten überhaupt Muslime sind. Aleviten beten nicht in Moscheen, sondern in Cemhäusern. Sie fasten nicht im Monat Ramadan, sondern zu einer anderen Zeit. Das islamische Rechtssystem Scharia hat für sie keine Bedeutung. Deshalb wurden sie von den sunnitischen Muslimen im einstigen Osmanischen Reich angefeindet und verfolgt.

Grabstätte des alevitischen Heiligen Karacaahmet Sultan in Istanbul (Foto: AP)
Die Grabstätten alevitischer Heiliger, wie hier Karacaahmet Sultan, spielen im Alevitentum eine wichtige RolleBild: AP

Auch in der modernen Republik Türkei wurden sie immer wieder diskriminiert. Bis heute ist das Alevitentum in der Türkei nicht als eigenständige Glaubensgemeinschaft anerkannt. Umso wichtiger findet es Kahraman, dass die Etablierung des Alevitentums in Deutschland auch auf die Türkei ausstrahle. "Das ist auch ein ganz wichtiges Signal für die Türkei", sagt er. Die Regierung in Ankara tue bislang so, als ob es gar keine Aleviten gebe.

Alevitentum als Lehre ohne Dogmen

Allerdings ist der Unterrichtsstoff, der in deutschen Klassenzimmern vermittelt wird, nicht mehr die einstige anatolische Geheimlehre. "Das Alevitentum des Jahres 2014 ist nicht das Alevitentum der 1960er Jahre und auch nicht von vor 120 Jahren", betont Kahraman. So finden die Rituale heute öffentlich statt, wohingegen Fremde bis vor wenigen Jahrzehnten nicht zugelassen waren. "Man ist nicht an ein Dogma gebunden, sondern ganz im Gegenteil, man passt sich der Zeit an", beschreibt der Verbandsvertreter die flexible Haltung. Hinzu komme, dass früher nur die Familien der alevitischen Geistlichen das religiöse Wissen hüteten und an die Gläubigen weitergaben. Nun tun das in Deutschland auch Religionslehrer.

Die Generalsekretärin der Alevitischen Gemeinde Deutschland, Melek Yildiz, glaubt, dass der eigene Religionsunterricht den Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften fördere. Alevitische Schüler lernten nun, sich selbst zu beschreiben und im Gespräch mit anderen Position zu beziehen. Früher wussten viele Aleviten laut Yildiz nur, was sie im Vergleich zu anderen Religionen anders machen. "Wir kennen das ja von unseren Eltern, die sich immer darüber definiert haben, was sie nicht sind", erzählt die AABF-Generalsekretärin. Das ändere sich mit der neuen Schülergeneration. "Die definieren sich darüber, was sie sind, und das ist sehr schön."

Alevitische Männer und Frauen tanzen den Semah-Tanz (Foto: Alevitische Gemeinde Deutschland)
Ein zentrales Ritual ist der Semah-Tanz, bei dem alevitische Männer und Frauen gemeinsam tanzenBild: Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.

Yildiz erwartet in den kommenden Jahren wachsende Schülerzahlen. Dafür nennt die Studienrätin und Religionspädagogin zwei Gründe. Zum einen gebe es nun auch die ersten weiterführenden Schulen, die den Religionsunterricht anbieten. Die Lehrpläne bis zum Abitur seien bald fertig. Zum anderen wachse auch die Lehrerzahl kontinuierlich. "Am Anfang war es so, dass wir auf die Lehrkräfte zugehen und Werbung machen mussten", erinnert sich Yildiz. Mittlerweile fragten Studenten von sich aus und wollten wissen, wie sie alevitische Religionslehrer werden könnten.