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Einsames Vorbild

Frank Sieren, Peking30. Juli 2014

Mit seinem Atomausstieg steht Deutschland international alleine da. China hingegen ist zumindest einstweilen Trendsetter, meint DW-Kolumnist Frank Sieren.

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Chinesischer Reaktor-Neubau erhält Kuppel
Bild: picture-alliance/dpa

Als am 11. März 2011 erst ein Erdbeben und dann ein Tsunami Japans Ostküste erreichte und tausende Menschen starben, war das auch vorerst das Ende für Japans Atomindustrie. Im Kraftwerk Fukushima schmolzen die Reaktor-Kerne, es war die schwerste Atomkatastrophe seit dem GAU von Tschernobyl 1986. Nach dem Schock befand Japans Regierung natürlich die Atomenergie erst einmal für zu unsicher und stoppte sämtliche Meiler des Landes.

Jetzt, dreieinhalb Jahre später, ist klar: Die Atomenergie ist selbst in Japan nicht tot zu kriegen. Denn die Japaner sind zwar verunsichert, sie wollen aber auch nicht länger die nach dem Atomausstieg stark gestiegenen Energiepreise hinnehmen.

Renaissance der Atomkraft in Japan

Auch mit diesem Argument hat sich Japans Regierung deshalb dazu entschlossen, japanische Atomkraftwerke bald wieder laufen zu lassen. Das AKW Sendai auf der Südinsel soll in wenigen Wochen den Anfang machen. Weitere sollen folgen. Auch Brasilien, Indien, China und Russland bauen aus. Immer mehr Länder entscheiden sich sogar, neu in die Kernenergie einzusteigen, darunter die Türkei, Bangladesch, Ägypten, Jordanien, Nigeria und Vietnam. Selbst die Vereinigten Arabischen Emirate haben mit dem Bau eines Atomkraftwerks begonnen, ebenso Weißrussland und Finnland. Das gleiche gilt für Argentinien und ausgerechnet Saudi Arabien. Und selbst die unmittelbaren Nachbarn Deutschlands haben eigene Vorstellungen von der Energieversorgung: zum Beispiel Frankreich, England und Polen setzen weiter auf Atomkraft. 72 Kernkraftwerke sind laut der Atomagentur IAEA derzeit im Bau.

Frank Sieren (Foto: Frank Sieren)
Bild: Frank Sieren

Deutsche Vorbildrolle vergebens

Insofern steht Deutschland mit seinem Ausstieg aus der Atomenergie ziemlich alleine da. Auch hier hat man sich, beinahe ähnlich geschockt wie die Japaner, hektisch zu einem kompletten Atomausstieg entschieden. Zwar war den Deutschen damals klar, dass sie in Europa vorerst alleine mit dieser Entscheidung bleiben würden. Ein gutes Argument hatten die frisch gebackenen Atomgegner in Berlin aber auf ihrer Seite: Irgendwer muss ja den Anfang machen und als Vorbild in der Welt voranschreiten. Schließlich lässt sich die Welt doch auch sonst von deutschen Ideen, deutscher Technik und deutschem Fußball begeistern.

Doch mit deutscher Überzeugungsarbeit in Sachen Atomausstieg hat es bisher nicht geklappt. Der gegenwärtige Trendsetter ist hingegen China. Bis 2020 will Peking die Zahl der Kraftwerke dort von derzeit 15 auf 71 erhöhen. Die Menge des Atomstroms soll von derzeit 13 Gigawatt bis zum Jahr 2040 auf 160 Gigawatt steigen. Zum Vergleich: Die USA gewinnt derzeit rund 101 Gigawatt aus der Atomenergie. Damit würde China binnen einer Generation zur größten Atomstrom-Nation der Welt aufsteigen. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand. Mittlerweile gibt es entlang der gesamten Ostküste und auch im stark industrialisierten Süden kaum eine Gegend, in der die Luftverschmutzung nicht mindestens für ein paar Tage im Monat alarmierende Werte erreicht. Zwar investiert Peking schon in erneuerbare Energien. Sowohl beim Ausbau von Windenergie als auch beim Bau von Solaranlagen ist das Reich der Mitte längst Weltspitze.

Wahl zwischen Pest und Cholera

Doch der Energiebedarf der 1,3 Milliarden Chinesen ist groß: Die Wirtschaft wächst weiter und neue Städte und Industrien müssen mit immer mehr Strom versorgt werden. Und bisher kommt dieser Strom vor allem aus Kohle, die die Luft verpestet. China allein verbraucht pro Jahr inzwischen fast so viel Kohle wie der gesamte Rest der Welt zusammen. Die gegenwärtige Lage ist also verheerend. Die chinesische Regierung hat also gewissermaßen die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie muss sich entscheiden zwischen den allgegenwärtigen Risiken der Kohle und den potentiellen Risiken der Atomkraft. Ein Risiko, dass Peking vorerst lieber in Kauf nehmen will. Wenn sie nicht eines Tages am Smog ersticken wollen, führt an der Atomkraft erst einmal kein Weg vorbei, glauben die Chinesen.

Siemens und andere deutsche Zulieferer sind dagegen aus dem Rennen, weil auch sie sich dem deutschen Atomausstieg fügen müssen. Dabei galten die Reaktoren der deutschen Ingenieure stets als die sichersten Welt.

DW- Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.