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Milieustudie auf der Bühne

Jürgen Jenauer8. April 2013

Das Deutsche Theater in Göttingen porträtiert mit dem Recherchestück "Rotlicht" ein Gewerbe, mit dem in Deutschland jährlich mehrere Milliarden Euro umgesetzt werden: die Prostitution.

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Uraufführung des Theaterstückes "ROTLICHT" im Deutschen Theater in Göttingen.
Uraufführung des Theaterstückes RotlichtBild: Isabel Winarsch

Die Bundesregierung kann nur schätzen, wie viele Sexarbeiterinnen, sprich Prostituierte, es in Deutschland gibt. Rund 400.000 sollen es sein, gut die Hälfte davon Migrantinnen. Das Sex-Gewerbe macht einen jährlichen Umsatz von etwa 15 Milliarden Euro. Wo kommen diese Frauen her, was treibt sie in die Prostitution? Was für Menschen stehen hinter der Dienstleisterin "Prostituierte"? Das Theaterkollektiv "werkgruppe2" hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater im niedersächsischen Göttingen versucht, mit einem Bühnenstück Antworten auf diese Fragen zu finden.

Interviews mit zehn Prostituierten

Dazu hat Regisseurin Julia Roesler Sexarbeiterinnen aus ganz Deutschland interviewt. Mehr als zehn habe sie nicht geschafft sagt sie, "da hatte ich schon 500 Seiten Text, alles weitere hätte nur die Recherche für weitere Theaterstücke bedeutet, das war gar nicht mehr zu schaffen." Entstanden ist aus den Gesprächen mit Frauen, die in Bordellen oder als freischaffende Dominas arbeiten, ein Stück, das einen tiefen Blick in das Gewerbe Prostitution wirft. Die Frauen, die hier ihre Geschichten erzählen, heißen Barbara, Yvonne, Elena oder Katharina - Figuren, deren Biografien eine Melange sind aus dem, was echte Prostituierte erlebt haben. Die sie auf der Bühne erzählen, in knappem Outfit, umgeben von einem grandiosen Bühnenbild, das an ein Schaufenster im Rotlicht-Viertel erinnert.

Uraufführung des Theaterstückes "ROTLICHT" im Deutschen Theater in Göttingen . Regisseurin Julia Roesler
Regisseurin Julia RoeslerBild: Isabel Winarsch

Eine von ihnen ist Sveta, die Prostituierte wurde, damit ihre Kinder nicht verhungern. Sveta ist im Stück eine 29-jährige Bulgarin, deren Geld nicht reicht, um ihre Tochter und ihren Sohn zu ernähren. Als dieser eines Tages ein Brot mit Öl und Salz bestreicht und fragt, ob er es ganz essen darf oder es auch für morgen reichen muss, ist für Sveta Schluss. Sie beginnt, in einem Bordell zu arbeiten. Dort bekommt sie als Erstes Geld, um etwas zu essen zu kaufen. Und schon ist Sveta eine der unzähligen Prostituierten in Deutschland geworden, die in Bordellen und Campingmobilen auf ihre Freier warten. Scheinbar hat sie kein Problem damit, in ihrem "Lovemobil" auf Stammkunden zu warten - für sie ist es ein Beruf "wie jeder andere". Doch auch tragischere Schicksale kommen an diesem Abend zur Sprache.

32 Freier allein am Vatertag

Darunter sind Schicksale von Frauen, die in der Prostitution gelandet sind und davon nicht wieder los kamen. Die dutzende Freier an einem Tag über sich ergehen lassen mussten. Die aus purer wirtschaftlicher Not weit weg von zu Hause wie eine Ware verkauft werden. Die froh sind, wenn sie abends unter eine warme Decke kriechen können, weil der Körper müde ist und der Kopf keine Nähe mehr erträgt - von niemandem. Oder die in "Flatrate-Bordellen" arbeiten müssen, in denen die Kunden einmal zahlen und mit den Prostituierten so oft Geschlechtsverkehr haben dürfen, wie sie möchten. Szenen, die den meisten Theaterzuschauern unter die Haut gehen dürften.

Uraufführung des Theaterstückes "ROTLICHT" im Deutschen Theater in Göttingen.
Das Bühnenbild von "Rotlicht"Bild: Isabel Winarsch

Dafür sorgt auch die großartige Musik, denn unterstützt wird das Geschehen auf der Bühne vom Trio rund um Insa Rudolph. Drei Damen, die mit Cembalo, Cello und Klavier den Theaterabend musikalisch begleiten und immer wieder Gänsehautstimmungen erzeugen.

Sexarbeit als alltäglicher Job

Mit lakonischer Leichtigkeit erzählt das Stück "Rotlicht" die verschiedenen Wege in die Sexarbeit. Da ist auch die Zahnarzthelferin, die "schon immer mehr auf die Bad Boys" stand und nicht fassen konnte, wie schnell sich mit Sex Geld machen lässt. Da ist die Domina, die erst spät darauf gekommen ist, dass es sich durchaus lohnen kann, Männer herumzukommandieren - vor allem aber tritt immer wieder der Gedanke auf, welche gesellschaftliche Funktion die Branche erfüllt - abseits der eines bloßen Ventils für den Geschlechtstrieb.

So lässt Regisseurin Julia Rösler ihre Figuren immer wieder vom "Kunden" sprechen, vom "Stammkunden" oder gar vom "Klienten", wie in jedem normalen Job. Akzeptanz dafür gibt es in der Gesellschaft allerdings keine. Domina Katharina sagt: "Der Sexualtherapeut beschäftigt sich nur gesprächsweise mit den Klienten. Da stellt das kein Mensch in Frage. Aber wir machen das körperlich, und da soll es plötzlich was ganz anderes sein?"

Uraufführung des Theaterstückes "ROTLICHT" im Deutschen Theater in Göttingen.
Angelika Fornell als die Prostituierte "Gerda"Bild: Isabel Winarsch

Sexualbegleitung in Alters- und Pflegeheimen

Auch dafür werden Prostituierte gebucht, erzählt Gerda, eine weitere Kunstfigur, die auf den Geschichten echter Prostituierter basiert. Sie berichtet dann ganz unbefangen, dass zum Beispiel einer ihrer Stammfreier befürchtet, sie nicht mehr zu sehen, wenn er ins Altersheim muss. "Dann besuche ich dich einfach da", sagt sie, und lächelt kokett. Prostitution gegen Vereinsamung, auch das ist eine gesellschaftliche Relevanz, die dem Gewerbe zukommt.

Die Millieustudie wirkt äußerst authentisch, es gibt keine Tabus an diesem Abend im Deutschen Theater. Dazu werden die Zuschauer aufgefordert, die Damen, die sich im Schaufenster auf der Bühne räkeln, anzurufen. So entsteht eine direkte Kommunikation, die Distanz zwischen Bühne und Saal wird beinahe komplett aufgehoben. Bewusst, sagt die Regisseurin: “Wir hätten ja auch Zuhälter oder Bordellbetreiber interviewen können, aber wir haben uns auf die Sexarbeiterinnen beschränkt, damit genau dieses Verhältnis entstehen kann, dass der Zuschauer zum Kunden wird.“

Uraufführung des Theaterstückes "ROTLICHT" im Deutschen Theater in Göttingen.
Prostitution als Spiegel der GesellschaftBild: Isabel Winarsch