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Eine Landkarte mit weißen Flecken

Nina Werkhäuser1. Juni 2015

Mit der Geschichte der Ukraine befassen sich nur wenige deutsche Historiker. Wie die neue Deutsch-Ukrainische Historikerkommission das ändern will, erläutert der Co-Vorsitzende Martin Schulze Wessel im Interview.

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Der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel, Professor an der Universität München
Bild: Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands

Deutsche Welle: Wozu braucht es eine Deutsch-Ukrainische Historikerkommission?

Martin Schulze Wessel: Es braucht diese Kommission, um die Perspektiven der Geschichtsschreibung zu erweitern. Wir haben bislang ukrainische Geschichte hauptsächlich über die Geschichte Russlands und der Sowjetunion wahrgenommen. Es gibt keine eigene Perspektive in Deutschland auf die ukrainische Geschichte. Es gibt einfach viel zu wenig Wissen darüber und zu wenige Expertinnen und Experten.

Woran fehlt es?

Es ist wünschenswert, dass in Deutschland ein Lehrstuhl für ukrainische Geschichte geschaffen wird. Aber noch wichtiger scheint es mir, dass, wenn Stellen für osteuropäische Geschichte ausgeschrieben werden, dass dann auch an Schwerpunkte in ukrainischer Geschichte gedacht wird und nicht immer wieder nur an die russische und sowjetische Geschichte.

Welche "weißen Flecken" sehen Sie in der deutschen Geschichtsschreibung über die Ukraine?

Zum Beispiel die deutsche Besatzungsherrschaft in der Ukraine ab 1941, die in der deutschen Öffentlichkeit nur als Besatzung in der Sowjetunion wahrgenommen wird. Dass nicht die Russen, sondern sehr viel mehr die Weißrussen und die Ukrainer die Haupt-Leidtragenden des Zweiten Weltkriegs waren, ist etwas, das im deutschen Geschichtsbewusstsein gar nicht vorhanden ist. Das ist ein Punkt unter vielen, an dem die deutsch-ukrainische Historikerkommission ansetzen sollte mit Forschung und mit öffentlichen Veranstaltungen.

Der ukrainische Co-Vorsitzende der Kommission, der Historiker Jaroslav Hrytsak, hat während der Tagung betont, dass die Erfahrungen deutscher Historiker mit der Vergangenheitsbewältigung hilfreich für die Ukraine sein könnten. Wie sehen Sie das?

Das ist natürlich ein großes Kompliment. Ich würde aber hinzufügen, dass jedes Land da seine eigenen Muster entwickeln muss, da die Verhältnisse sehr unterschiedlich sind. Die deutsche Vergangenheit und die damit verbundene Schuld ist eine einzigartige. Und wenn es um Vergangenheitsbewältigung in der Ukraine geht, dann geht es um die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit und auch sehr stark um das ukrainisch-polnische Verhältnis. Da mögen einzelne Elemente unseres Umgangs mit Vergangenheit zu übernehmen sein, aber sicher nicht alle.

Wie wirkt sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auf die historische Forschung aus? Viele Fachleute schienen ja zunächst überrumpelt zu sein und rangen um Erklärungen.

Natürlich hat uns die Krise alle zusammen in dieser Dynamik überrascht. Niemand hat mit einem Krieg in Europa gerechnet, und es ist ein Krieg. Die erste Aufgabe ist es, das zu benennen, und nicht so zu tun, also ob es ein Randphänomen an der Peripherie Europas ist. Es ist etwas, das Europa zutiefst betrifft, weil es um Europa geht.

Mir scheint es schon so, dass wir in der Geschichtswissenschaft eine intensive und kontroverse Diskussion haben. Der Riss, der in der Öffentlichkeit bemerkbar ist, geht auch durch die Geschichtswissenschaft. Es gibt also ein intensives Interesse, diese Fragen zu klären, und davon werden auch Forschungen ausgehen.

Ein zerstörtes Haus im Osten der Ukraine, Foto EPA
Krieg in Europa: Ein zerstörtes Haus im Osten der UkraineBild: picture-alliance/dpa/M. Shipenkov

Welches Gewicht hat die Stimme von Historikern vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine, in dem die Propaganda sich oft auf bestimmte Lesarten der Geschichte stützt?

Die erste Aufgabe von Geschichtswissenschaft ist die Dekonstruktion von Geschichtsmythen, die von der Politik in den Raum gestellt werden. Das Orientierungsbedürfnis der Öffentlichkeit ist hoch. Wir Historiker werden gehört, wenn wir uns Gehör verschaffen, etwa über die Medien. Es liegt also an uns.

Martin Schulze Wessel ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität München. Er ist der Co-Vorsitzende der neuen Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission, in der je fünf renommierte Historiker aus Deutschland und der Ukraine zusammenarbeiten. Die erste öffentliche Tagung der Kommission in Berlin (28./29.05.2015) stieß auf eine so positive Resonanz, dass sie kurzfristig in einen größeren Saal verlegt werden musste. Kritik kam hingegen aus Moskau. Russische Historiker warnten die Kommission, keine antirussische Propaganda zu betreiben.

Das Interview führte Nina Werkhäuser.