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Ein Studium mit historischem Anhang

28. Januar 2012

Immer mehr jüdische Studenten zieht es nach Berlin. Auch wenn die Beweggründe verschieden sind, so ist die Vergangenheit doch immer präsent. Nicht zwingend eine negative Erfahrung für junge Juden.

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Das Touro-College ist eine jüdisch-amerikanische Privathochschule in Berlin. Hier studieren können Studenten aller Religionsrichtungen. ****Ausschließlich zur Berichterstattung über das College verwenden.****
Touro College BerlinBild: Touro College Berlin

Warum sie ausgerechnet nach Berlin gekommen ist? Diese Frage möchte sich Keren Avirame, 34 Jahre, für den Schluss des Interviews aufheben. Denn so einfach sei die Antwort nicht. Leichter hingegen fällt es ihr zu beschreiben, was sie an der deutschen Hauptstadt mag: "Hier ist so vieles machbar, unabhängig von Status oder Geld. Es lässt sich ohne große Anstrengungen ein gutes Leben führen - in Israel ist das ganz anders."

Keren Avirame wohnt seit mehr als einem Jahr in Berlin und arbeitet hier an ihrer Doktorarbeit in der neurowissenschaftlichen Abteilung des renommierten Universitäts-Krankenhauses Charité. Anfangs fiel es ihr ziemlich schwer, sich einzugewöhnen.

Keren Avirame aus Irael Doktorantin der Neuro-Wissenschaft an der Charite Berlin (DW)
Keren Avirame aus IraelBild: DW/N.Wojcik

"Das hat weniger damit zu tun, dass ich Jüdin bin, sondern damit, dass die deutsche Mentalität so anders ist als die israelische", sagt sie. "Hier dauert alles viel länger - egal ob im Restaurant, im Straßenverkehr oder in zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Leute lassen sich bei allem unglaublich viel Zeit." Eine sehr anstrengende Umgewöhnung sei das gewesen. Mittlerweile könne sie aber diesen gemütlichen Lebensrhythmus genießen.

Die Schuld beendet jede Diskussion

Und noch etwas ist in Berlin ganz anders als in Israel: Als Jüdin ist sie hier eine Ausnahme und spürt das tagtäglich. "Ich werde nicht wie andere Auslandsstudenten aus beispielweise den USA oder Italien behandelt. Die Beziehung zwischen mir und den Deutschen ist immer auf eine Art vorbelastet." Das meint Keren Avirame gar nicht negativ und möchte es auch nicht bewerten. Sie nimmt es einfach nur wahr, mit wissenschaftlicher Neugier.

"Ein Schuldgefühl ist eigentlich immer deutlich zu spüren, ob es nun ausgesprochen wird oder nicht." Dabei findet sie es sehr schade, dass es so schwierig sei, mit Deutschen über den Holocaust zu reden. "Die Schuld ist ein Totschlagargument - einmal ausgesprochen, geht die Diskussion danach nie weiter."

Das Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin (Foto:dpa)
Im Haus der Wannsee Konferenz in Berlin wurde 1942 die "Endlösung der Judenfrage" beschlossenBild: picture-alliance/dpa

Es sind der Zweite Weltkrieg und das Verbrechen an den Juden - und damit auch an ihren Vorfahren - welche die Doktorandin letztendlich nach Berlin gebracht haben. "Nicht bewusst, aber im Hintergrund schwingt das ganz stark mit", sagt sie. Die Zäsur des Holocausts in ihrer Familiengeschichte ließ bislang viele Fragen unbeantwortet. "Vielleicht versuche ich in Berlin auch, mich mit der Vergangenheit auf eine Art zu versöhnen", sagt Keren Avirame. Interessanterweise habe sie so auch mehr zu ihren Wurzeln zurückgefunden. "Ich fühle mich hier viel jüdischer als in Israel und gehe sogar hin und wieder in die Synagoge."

Bewusste und unbewusste Spurensuche

Es gibt viele Gründe, die Studenten aus Israel nach Berlin locken: billige Miete und Lebenshaltungskosten, gute Studienbedingungen und auch die bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der eigenen Familiengeschichte. Dazu kommt sicherlich noch Berlins derzeitiger Ruf als eine der aufregendsten Hauptstädte Europas mit langen Partynächten und einem reichen Kulturangebot. So hat sich die Zahl der Studenten aus Israel in Berlin in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.

Interessant für einige von ihnen könnte auch eine relativ junge Hochschule sein: das Touro-College im Westen von Berlin, idyllisch gelegen mit Blick auf das Havel-Ufer. Seit 2003 können hier Studenten aller Glaubensrichtungen an einer jüdisch-amerikanischen Privathochschule Betriebswirtschaftslehre studieren. In Berlin gibt es bereits eine jüdische Kindertagesstätte, eine Grund- und Oberschule. "Eine Hochschule hat aber noch gefehlt", sagt Sara Nachama, Direktorin und Mitbegründerin des Touro-College.

Studierende des Touro-College, einer jüdisch-amerikanischen Privathochschule in Berlin (Foto:
Studierende des Touro College BerlinBild: Touro College Berlin

Studenten mit Kippa und Kopftuch

Wer hier studiert, braucht eine Magnetkarte, um das Eingangstor zu öffnen. Doch anders als bei anderen jüdischen Einrichtungen in Berlin gibt es keinen Polizeischutz und auch keine hohen Zäune oder gar Stacheldraht. "Ich finde, die Zeit ist reif dafür. Bisher haben wir keine Probleme gehabt, und ich möchte meinen Studenten auch nicht das Gefühl geben, dass wir eine von der Gesellschaft abgetrennte Einrichtung sind", sagt Nachama. "Wir sind eine offene Hochschule."

Das gilt auch für Religionen. Am Touro-College studieren nicht nur Juden, sondern auch Christen und Muslime. "Die schönsten Momente sind für mich diejenigen, wenn eine Studentin aus dem Jemen mit Kopftuch gemeinsam mit einem Studenten aus Israel mit Kippa über BWL diskutiert." Auf dem kleinen, überschaubaren Campus treffen junge Menschen aufeinander, die sich sonst kaum begegnen würden.

Besonders der amerikanische Abschluss, den die private Hochschule bislang als erste und einzige in Berlin anbietet, lockt die Studenten aus der ganzen Welt an das College. Gerade einmal 120 Studierende sind hier eingeschrieben - so wie Taylor aus den USA. Die 22-Jährige ist mit ihrem Vater nach Deutschland gekommen und studiert nun seit mehr als einem Jahr BWL. Taylor ist Christin und hat über das Judentum bisher wenig gewusst. "Die Religion dominiert das Studium nicht, aber sie ist präsent. Wir haben eine koschere Mensa und manchmal feiern wir gemeinsam jüdische Feste."

Ein Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor in Berlin (Foto: dapd)
Ein jüdischer Brauch: das Lichterfest ChanukkaBild: dapd

Berlin führt Familien zusammen

Freitags findet der Unterricht nur bis zum Mittag statt, da mit Sonnenuntergang der Sabbat beginnt, der jüdische Ruhetag, an dem nicht gearbeitet werden soll. Außer den jüdischen Bräuchen sind aber auch jüdische Studien Pflicht für alle Studenten, bestehend aus jüdischer Philosophie, Geschichte und auch einem Holocaust-Kurs. Gerade für deutsche Studierende sei das ziemlich interessant.

"Während der Schulzeit sind die Schüler entweder zu jung oder später, in der Pubertät, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich diesem Thema emotional zu nähern. Nach dem Abitur haben sie die richtige Reife, um verstehen zu können, wie so etwas wie der Holocaust passieren konnte", sagt Sara Nachama. Sie selbst kommt aus Israel und lebt seit den 1970er Jahren in Deutschland.

Jonathan ist erst seit drei Jahren in Berlin, auch er ist mit seiner Familie aus Israel hier her gezogen. "Für mich ist es sehr wichtig, auf eine jüdische Hochschule zu gehen", sagt er. Ihm sei seine Religion wichtig. "Ich gehe regelmäßig in die Synagoge und auch den Sabbat halte ich ein. Ehrlich gesagt, bin ich der einzige in der Familie, dem das so wichtig geworden ist."

Hinter einem Davidstern ist in Worms in der Synagoge ein Besucher in einer Gebetsbank zu sehen (Foto: dpa)
Jüdisches Leben in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Seine Familie ist ziemlich groß, bestehend aus Tanten, Onkel und zahlreichen Cousinen und Cousins. Waren sie früher auf Russland, Israel und Deutschland verteilt, haben sie nun in Berlin zusammengefunden. "Familie ist das Wichtigste", sagt der 21-Jährige. Natürlich hätten einige Bekannte in Israel schockiert darauf reagiert, als sie nach Deutschland ausgewandert sind. Aber diese Menschen würden zu sehr in der Vergangenheit leben. "Deutschland ist ein tolles Land, man hat hier so viele Möglichkeiten und das Leben ist gut."

Autorin: Nadine Wojcik
Redaktion: Gudrun Stegen