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Ein mutiger Dichter: Reiner Kunze

Jochen Kürten15. August 2013

Er war einer der poetischen Wegbereiter des Zusammenbruchs der DDR. Der Dichter Reiner Kunze war der SED und den dortigen Zensoren stets ein Dorn im Auge. Dabei war er keiner, der lautstark auf die Barrikaden ging.

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Der Schriftsteller und Lyriker Reiner Kunze liest 2009 in der Kirche St. Martin in Memmingen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Der stille Deutsche" nennt der Historiker Michael Wolffsohn ihn und charakterisiert Reiner Kunze damit sehr treffend. Wie kann man aber still sein und doch einen Staat derart provozieren, dass dieser mit einer Heftigkeit reagiert, die sprachlos macht? Wie kann ein Dichter, der doch nur ein paar Zeilen zu Papier bringt, Gedichte vor allem, die Oberen derart irritieren?

Reiner Kunze konnte es. Für viele, vor allem Jüngere, mag die Geschichte des Reiner Kunze eine aus fernen Zeiten sein, aus Zeiten, als in Deutschland noch Dichter ins Gefängnis geschickt und des Landes verwiesen wurden. Dabei ist das erst wenige Jahrzehnte her. Als die Mauer noch stand und Deutschland teilte, da war Reiner Kunze einer, der mit am heftigsten rüttelte an diesen Steinen, der erste Brocken herausschlug mit seinen Worten und zarten Zeilen.

"Deckname Lyrik"

Sein Gedichtband "Brief mit blauem Siegel", erschienen 1973, wurde zum erfolgreichsten Lyrik-Titel der DDR. In dem schmalen Taschenbuch offenbarte Reiner Kunze in freien Rhythmen seine Sicht auf ganz alltägliche Dinge. Der Raum zur Interpretation bleibt offen, wenn er einen Minirock beschreibt: "Zwanzig zentimeter überm knie", unter dem "die luft der trottoire / vibriert vom geläut / der kurzen glocken" oder die Aufforderung "Jugend in den Pfarrgarten" ausspricht. Und doch konnte all dies leicht als ironischer Kommentar auf die gesellschaftlichen Zustände der DDR gelesen werden. Kunze wurde von der Staatsicherheit (Stasi) bespitzelt, jede Zeile von ihm in einer Akte festgehalten und kommentiert. Kurz nach dem Zusammenbruch der DDR 1990 brachte der Dichter die gesammelten Berichte der DDR-Geheimpolizei wiederum als Buch heraus. Der Titel: "Deckname Lyrik".

"Wir waren entgegengesetzte Charaktere. Wir kämpften gegen den gleichen Feind, also gegen die totalitäre Monopolbürokratie in der DDR", schreibt der wohl bekannteste DDR-Dissident Wolf Biermann in einem Grußwort zum 80. Geburtstag des Weggefährten. "Wir waren beide auf sehr unterschiedliche Art Soldaten in dem, was Heinrich Heine im Gedicht 'Enfant Perdu' den ewigen Freiheitskrieg der Menschheit nennt." Der Liedermacher Biermann wurde 1976 des Landes verwiesen, nachdem er während einer Reise beim "Klassenfeind" in Westdeutschland ein Konzert gegeben hatte. "Selbstportrait für Reiner Kunze" hieß ein Lied, dass Biermann während seines inzwischen legendären Auftritts in Köln sang.

Der Liedermacher Wolf Biermann 1976 in Köln (Foto: dpa)
Sang 1976 in Köln auch für Reiner Kunze: Wolf BiermannBild: picture-alliance/dpa

Verschiedene Temperamente

Biermann und Kunze, das waren in der Tat zwei ganz unterschiedliche Charaktere. Schrie der eine seine Wut laut heraus und haute den DDR-Bürokraten dazu noch seine Gitarre um die Ohren, so schrieb der andere stille, pointierte Verse und kurze Texte. Ihre Wirkung war aber ebenso kräftig. In Ost-Berlin verstanden DDR-Staatschef Erich Honecker und seine Kulturbeauftragten die Worte sehr genau und reagierten. Zunächst überzogen sie Kunze mit Ordnungsverfahren und schlossen ihn aus dem Schriftstellerverband aus. Dann gaben sie überraschend seinem Ausreiseantrag vom 7. April 1977 statt.

Warum? Darüber wird noch heute spekuliert. Wahrscheinlich hatte die Stasi verstanden: Bei Kunze hatten sie es mit einem zu tun, dem nicht beizukommen war und der vermutlich auch im Gefängnis Größe bewahrt hätte. Und einen Märtyrer konnte die DDR nun wahrlich nicht gebrauchen. In Zeiten, in denen viele DDR-Bürger ihrem Staat gegenüber immer kritischer wurden, sollte die Stimmung durch Prominente und Intellektuelle wohl nicht weiter angeheizt werden. Deshalb ließ man Kunze und seine Familie lieber gehen.

P.E.N. - Jahrestagung 1978 in Erlangen: Thaddäus Troll, Walter Jens, Reiner Kunze und Heinz Piontek. (Foto: picture alliance/Karl Schnörrer)
Kunze bei einer PEN-Tagung 1978 mit Walter JensBild: picture alliance/Karl Schnörrer

Gratulation zum 80. Geburtstag

Reiner Kunze gehört "zu den Widerständlern, die wir in der deutschen Geschichte hatten", sagt der Autor Matthias Buth im Gespräch mit der Deutschen Welle. Buth hat gemeinsam mit dem Lyriker Günter Kunert ein Buch herausgebracht zu Ehren des Geburtstagskindes Reiner Kunze. "Dichter dulden keine Diktatoren neben sich" haben Buth und Kunert ihr Buch genannt. "Er hat keinen Staatsstreich versucht, aber er hat sein Leben eingesetzt, mit den Methoden, über die er verfügt hat, nämlich Gedichte und Prosa. Wir können viel von ihm lernen, weil er widerständig geblieben ist und sich nicht vereinnahmen ließ", sagt Buth.

Zu den Methoden des 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge geborenen Kunze gehörte das Talent, seine Worte und Sätze so zu wählen, dass sie schmerzten. Dabei war Kunze, der zunächst der SED beitrat, sich dann aber im Laufe der Jahre mehr und mehr von den ideologischen Vorgaben der Machthaber in Ost-Berlin entfernte, kein politischer Schriftsteller im klassischen Sinne. "Ich bin kein politischer Autor, kein Autor, der schreibt um Politik zu machen", hat Kunze über sich gesagt. Und doch: Seine Art des Lebens war ein mutiges politisches Statement, wenn man Politik als gesellschaftlichen Beitrag definiert.

Schriftsteller Reiner Kunze mit seiner Frau Elisabeth Littnerová 2008 (Foto: dpa)
Mit seiner Frau Elisabeth Littnerová vor fünf JahrenBild: picture-alliance/dpa

Schmuggelware Literatur

"Das Gedicht als unmittelbarster Ausdruck sprachlicher Intensität, eine Zeile kann ganze Zeitungsberge aufwiegen, sie schütze vor den Anmaßungen der Welt", schreibt Lutz Rathenow, auch so ein widerständiger Dichter und Lyriker der ehemaligen DDR. In einem Essay nennt er Kunze einen, dem "jede Lärmbereitschaft" fehlte. Auch erinnert Rathenow an die Prosaskizzen, die in dem Band "Wunderbare Jahre" veröffentlicht wurden. Das Manuskript hatte 1976 ein Kritiker in den Westen geschmuggelt. Da wurde es dann veröffentlicht und schlug ein wie eine Bombe. "Plötzlich war er ein Bestseller-Autor (im Westen) und ein richtiger verbotener Autor im Osten", erinnert Rathenow.

Jetzt wird der stille Herr Kunze 80 Jahre alt. Im bayerischen Passau, wo er schon lange lebt, wird auch er sich erinnern an das, was für viele jüngere Zeitgenossen inzwischen fast schon abgeschlossene deutsche Zeitgeschichte ist, die man nur noch in Büchern nachliest. "Herr Kunzes Schicksal bildet die Blaupause für viele folgende Lebensläufe", schreibt Günter Kunert, "seine Vertreibung war schon der Anfang von dem kommenden Exodus wesentlicher Autoren." Reiner Kunze hat mit seinem Schaffen eindrucksvoll bewiesen, dass man auch leise lautstark auf Mißstände aufmerksam machen kann.

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Zum Weiterlesen: Dichter dulden keine Diktatoren neben sich. Reiner Kunze. Ein Lesebuch, hrsg. von Matthias Buth und Günter Kunert, Verlag Ralf Liebe 2013, 312 Seiten, ISBN 987-3-944566-05-4.