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Ein Fotograf mit Grenzerfahrungen

30. Oktober 2014

Jürgen Ritter hat die deutsch-deutsche Grenze erwandert und dabei zehntausende Fotos von der Teilung geschossen: von der Ostsee bis nach Bayern und in Berlin. Jetzt schaut er nach, wie es heute dort aussieht.

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Grenzfotograf Jürgen Ritter @ dpa
Bild: picture-alliance/dpa

Der Grenzfotograf ist ein unruhiger Geist, er sprudelt über vor Geschichten, springt von Thema zu Thema. Über die Jahre ist Jürgen Ritter nur wenig ruhiger geworden, die 65 sieht man ihm nicht an. Das Büro unter dem Dach ist voller Bücher und Fotos, hinter ihm eine Wand mit Ordnern voller Negative. Ein großes Panorama-Fenster bietet ihm freien Blick in die Weite. Freiheit ist sein Lebensthema geworden - die Freiheit und ihre Grenze.

Er lebt in Barum, einem schmucken Dorf im Nordosten Niedersachsens, bis zur deutsch-deutschen Grenze waren es nur 25 Kilometer. "Ich bin schon als Kind oft mit dem Fahrrad hingefahren", berichtet Ritter, der ganz in der Nähe aufgewachsen ist. Auch seine Mauerfotos haben Geschichte gemacht, waren in "Bild", "Zeit", "Welt", "FAZ" oder "Frankfurter Rundschau".

Die scheinbare Idylle entlarvt

Dass man in Deutschland nach dem Grauen von Krieg und Vertreibung wieder Waffen in die Hand nahm, habe er nie verstanden. "Und dass dann noch Deutsche auf Deutsche schießen - völlig unverständlich", sagt Ritter. Er habe es nicht mehr ausgehalten und sei losgewandert.

Fotograf: Jürgen Ritter
Menschenleerer Ostseestrand 1986Bild: Jürgen Ritter

Im März 1982 startet der damalige Fernmeldetechniker in Schnackenburg an der Elbe immer entlang der Grenze nach Süden, etappenweise an Wochenenden oder im Urlaub. Er erlebt 1400 Kilometer Natur-Idyll und Todesstreifen, Hitze, Mücken und Moore. Dabei immer die Angst im Nacken, von DDR-Grenzern festgesetzt zu werden. Aber nach zwei Jahren, da ist es geschafft.

Ritters Bilder von damals zeigen oft scheinbar ein Idyll, doch auf den zweiten Blick sieht man Selbstschussautomaten im Sonnenuntergang oder Wachtürme im warmen Herbstlicht. "Das Schönste ist, wenn ein Bild Diskussionen auslöst", meint Ritter. "Wenn man an der Unfreiheit entlang geht, begreift man erst, was Freiheit bedeutet. Es war der Wille, das System mit Bildern zu entlarven." Das stieß auch im Westen nicht nur auf Zustimmung. "Bis 1989 war ich Spinner, Revanchist und Ewiggestriger." Rund 50.000 Fotos hatte er bis dahin in sieben Jahren von der Grenze geschossen.

Die Grenze ist sein Motiv
Mit den 80er-Jahren kam die Annäherung zwischen Ost und West, viele Städte in der damaligen Bundesrepublik gingen Städtepartnerschaften mit Orten in der DDR ein. Die Rathäuser seien damals zögerlich geworden, Ausstellungen mit Ritters Bildern zu zeigen, erinnert er sich. So macht sich Ritter auf die Suche nach anderen Motiven, fotografiert in den Eiswüsten von Antarktis und Arktis, in abgelegenen und lebensfeindlichen Regionen wie Spitzbergen oder Franz-Josef-Land - eine "Flucht an andere Grenzen", wie er sagt. Die Bilder des Reisefotografen zeigen die bedrohliche Schönheit eisiger Landschaft.

Wo die Mauer Schöningen im Westen von Hötensleben im Osten trennte, verläuft heute eine Hauptverkehrsstraße @ Jürgen Ritter / dpa
Wo die Mauer Schöningen im Westen von Hötensleben im Osten trennte, verläuft heute eine HauptverkehrsstraßeBild: picture-alliance/dpa

Seit zehn Jahren aber hat ihn sein altes Thema wieder fest im Griff. Ritter schaut mit der Kamera nach, was aus der Linie wurde, die Deutschland einst teilte und heute fast überall fast unsichtbar geworden ist. Er sucht dabei genau dieselben Orte auf, von denen er früher die Grenzanlagen dokumentierte und stellt die Ergebnisse nebeneinander.

Seine Vorher-nachher-Bilder zeigen Straßen, Felder und Wälder wo einst der Todesstreifen verlief, zeigen Wanderer und Radfahrer wo Grenzer an Mauern, Zäunen und Beobachtungstürmen patrouillierten oder Fußballspieler auf einem Rasen, der früher Minenfeld war. "Das Thema beschäftigt mich immer noch von morgens bis abends, manchmal sitze ich schon um 5.00 Uhr in der Früh am Computer", sagt Ritter. Auf grenzbilder.de zeigt er seine eindrucksvollen Fotos.

Ein Kalender und ein Buch

Seit 2013 gibt er einen Kalender heraus. "Damals hat ihn keiner verlegen wollen, da habe ich ihn selbst drucken lassen", sagt Ritter. "Er zeigt, wie grausam das System war und wie schön es jetzt ist." Mittlerweile gibt es den dritten, den für 2015. "Von Jahr zu Jahr hat sich die Auflage verdoppelt." Bestellungen kämen auch aus den USA und Australien, Holland oder Großbritannien. Auch sein neues, mit dem Politologen Peter Joachim Lapp verfasstes Buch "Deutschland grenzenlos" wurde bereits nachgedruckt.

Grenzverlauf bei Asbach 1984 und während eines Fußballturniers 2006 @ Jürgen Ritter / dpa
Innerdeutscher Grenzverlauf bei Asbach 1984 und während eines Fußballturniers 2006Bild: picture-alliance/dpa

Der frühere DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann schrieb im Vorwort zu dem Buch: "Das mörderische Grenzregime muss in unserer Erinnerung bewahrt werden, damit die Vergangenheit nicht verklärt und das Erreichte nicht klein geredet werden kann. Genau dieses leisten die Autoren des Bandes mit den hier präsentierten Fotos und Texten."

"Lapp hat für das Buch meine Stasi-Akte ausgewertet", berichtet Ritter. "Wenn ich vorher gewusst hätte, wie die DDR mein Tun bewertet, wäre ich nie an der Grenze entlanggegangen, schon wegen meiner Familie." Für die DDR sei er potenzieller Fluchthelfer, Spion und Terrorist gewesen.

Vom Mauerfall erfährt er in der Dunkelkammer

Doch Gründe zur Überheblichkeit habe im Westen niemand, betont Ritter immer wieder. "Man zeigt gern mit dem Finger auf die DDR, aber das System der vielen Stasi-Zuträger im Westen ist nie analysiert oder vollständig aufgearbeitet worden." Er sei stolz auf die ersten Demonstranten in Plauen und Leipzig; die Westdeutschen hätten keinerlei Grund gehabt, sich moralisch überlegen zu fühlen. Tausende Westdeutsche hätten ohne Not für die DDR spioniert. Auch in seinem Verein Grenzopfer, der zinslose Darlehen an DDR-Flüchtlinge vergab, sei ein Mitarbeiter der Stasi gewesen.

Am Brandenburger Tor in Berlin, fotografiert 1984 und 2008 @ Jürgen Ritter / dpa
Am Brandenburger Tor in Berlin, fotografiert 1984 und 2008Bild: picture-alliance/dpa

Als die Mauer am 9. November 1989 geöffnet wird, arbeitet Ritter in seiner Dunkelkammer und entwickelt Grenzbilder. "Im Radio habe ich es dann gehört und gedacht: Die spinnen ja! Erst, als es alle zehn Minuten immer wieder kam, da habe ich es geglaubt", erinnert er. "Ich habe bis nachts um 1.00 Uhr durchgeheult und bin am nächsten Morgen nach Berlin gefahren." Dort ist dann sein Lieblingsbild entstanden: "Mein schönstes Bild zeigt einen Feuerschlucker auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Das war wie eine Explosion, so habe ich den Mauerfall erlebt."

"Mir ist bewusst, dass noch nicht alles rund läuft, aber so vieles hat sich zum Guten gewendet", sagt Ritter, der etwa unterschiedliche Löhne in Ost und West beklagt. Unterm Strich aber ist sein Fazit eindeutig: "Mauerfall und Wiedervereinigung waren ein Glücksfall, da kriege ich heute noch Gänsehaut." Und: "Diese Freude, zu sehen, wie es geworden ist - das ist unglaublich!"

Peer Körner (dpa)