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Ernst Stadler

Tillmann Bendikowski24. Juli 2014

Zwischen Kriegsbegeisterung und Skepsis: Wie haben die Deutschen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erlebt? Wir zeigen deutsche Schicksale 1914. Diese Woche: Ernst Stadler

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Ernst Stadler
Bild: DLA/Thea Sternheim

Als sich über Europa die Kriegswolken zusammenziehen, packt der 30-jährige Ernst Stadler gerade seine Koffer: Er löst sein kleines Appartement in Brüssel auf, wo er einige Zeit als Dozent für deutsche Sprache und Literatur gewirkt hat. Jetzt hat er einen Vertrag mit der Universität von Toronto geschlossen, wo er ab September 1914 als Gastprofessor lehren soll. Bevor er sich auf den Weg nach Kanada macht, kümmert sich Stadler allerdings noch um seine eigentliche Leidenschaft – die Poesie. Gerade ist sein erster Gedichtband unter dem Titel "Der Aufbruch" erschienen, und Kennern der Szene gilt er längst als einer der größten Talente des literarischen Expressionismus.

Ernst Stadler wächst in Straßburg auf, ist geprägt von der Kultur des Elsass, das seit 1871 dem Deutschen Reich angegliedert ist, und wo sich eine durchaus eigenständige Identität zwischen Frankreich und Deutschland herausbildet. Stadler selbst engagiert sich im Kunstkreis "Jüngstes Elsaß", deren Mitglieder grenzüberwindend – heute wurde man sagen: europäisch – denken und wirken wollen. Dem kaiserlichen Deutschland kann er wenig abgewinnen: So prangert er einen Fetischismus der Uniform oder auch die mangelnde Bildung des Bürgertums an – und wird öffentlich angefeindet. "Ich bin reichlich deutschlandmüde", schreibt er deshalb im April 1914 einem Freund, "und so geht mir Canada als der Stern eines tröstlicheren Morgens auf."

Ernst Stadler ist ein geselliger, lebenslustiger, gebildeter und weitgereister Zeitgenosse. Im heimatlichen Straßburg versammelt er im Sommer noch alte und neue Freunde, um Abschied von der alten Welt zu nehmen. Doch dieser Abschied kommt anders als erwartet: Als Reserveoffizier eines Artillerie-Regiments erhält er am 31. Juli 1914 seinen Stellungsbefehl. In der Nacht zuvor singt er gemeinsamen mit seinen Freunden als Protest gegen den Krieg die "Marseillaise". Und doch: Ernst Stadler muss in den Krieg ziehen.

Ernst Stadler
Bild: DLA/Thea Sternheim

Im Gepäck hat er die Angst: Im Mai 1914 hat ihm eine Wahrsagerin in Paris prophezeit, dass er eine geplante größere Reise nicht antreten wird (damit ist für ihn fraglos die Überfahrt nach Kanada gemeint) und dass er noch in diesem Jahr eines gewaltsamen Todes sterben werde. Als Artillerie-Offizier kommandiert er nun eine Geschützeinheit, wird an der Westfront eingesetzt und zieht im Oktober in die erste Flandernschlacht bei Ypern. Bei der Erstürmung des belgischen Ortes Zandvoorde wird er am 30. Oktober 1914 von einer Granate zerrissen.