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Ehrenamt als Lückenbüßer

Marco Gerbig-Fabel6. August 2013

Beim Ehrenamt fällt Kritik schwer. Niemand mag jene kritisieren, die ihre Zeit unentgeltlich in den Dienst der Gesellschaft stellen. Doch manches ehrenamtliche Projekt hilft dort, wo eigentlich der Staat zuständig ist.

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Ein Bettler sitzt auf einem Gehsteig in München und hält ein Schild mit der Aufschrift "Hilfe, bitte!" in den Händen. Foto: Andreas Gebert dpa/lby
Deutschland Armut Bettler in MünchenBild: picture-alliance/dpa

In Deutschland erhält jedes fünfte Kind Sozialleistungen. Fast acht Millionen Menschen arbeiten für Niedriglöhne. Etwa 12 Millionen leben an oder unter der Armutsgrenze. So der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung.

Mittlerweile sind bis zu 1,5 Millionen Menschen – vor allem in den Großstädten – regelmäßig auf die Hilfsleistung der sogenannten Tafeln angewiesen. Eine Art Armenspeisung: Lebensmittelspenden werden von Ehrenamtlichen gesammelt und an Bedürftige ausgegeben.

Ehrenamt als finanzieller Vorteil für den Staat

Ehrenamtliche haben hierzulande einen guten Ruf. Da will auch die Politik nicht zurückstehen. So hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend öffentlich erklärt, das bürgerschaftliche Engagement stärken zu wollen. Das macht sich nicht nur gut in der politischen Debatte, sondern hat zudem einen enormen finanziellen Vorteil, denn in Deutschland sind allein die 16 Bundesländer mit weit über 600 Milliarden Euro verschuldet. Immer mehr Sozialleistungen gelten daher als kaum mehr finanzierbar. Das Ehrenamt kann dort aushelfen, wo der Sozialstaat seiner Verantwortung nicht gerecht wird. So wird soziale Not hier und da gelindert – kostenlos, versteht sich.

Die Tafeln sind hierfür vielleicht das prominenteste Beispiel. Vor 20 Jahren begannen einige Frauen in Berlin, nicht verbrauchte oder nicht mehr verkäufliche Lebensmittel von Restaurants, Hotels und Supermärkten einzusammeln, um damit Obdachlosen zu helfen und auf Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen. Heute ist aus der Berliner Initiative eine bundesweite Organisation geworden, die von mehr als 50.000 ehrenamtlichen Helfern getragen wird. Deutschlandweit gibt es mehr als 900 Tafeln mit über 3000 Ausgabestellen, Tendenz steigend. Und es sind schon längst nicht nur Obdachlose, die mit kostenlosen Lebensmitteln unterstützt werden, sondern auch Langzeitarbeitslose, Rentner, Familien mit kleinen Einkommen. Es scheint also nicht übertrieben, wenn der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. erklärt, seine Organisation sei "zu einer der größten sozialen Bewegungen unserer Zeit geworden."

Eine Frau gibt einem Mann Lebensmittel.
Warenausgabe bei der Bergedorfer TafelBild: Wolfgang Borrs

Lob für das Almosensystem

Die Politik lobt die Leistungen der Bewegung. Und nicht wenige Politiker, ob auf Bundes- oder Länderebene, suchen die Nähe der Organisation. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), ist Ehrenmitglied der Berliner Tafel, Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) ist die Schirmherrin der Tafeln in Deutschland. Die Christdemokratin bescheinigt der Organisation, sich einer "genialen Idee" verschrieben zu haben: "Die Tafeln sind eine helfende Hand - unaufdringlich, aber doch immer zur Stelle. Dieses Engagement ist bewundernswert."

Kritiker wie das "Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" betrachten die meist positive Sicht der Politik auf die Tafeln mit Besorgnis. Sie finden es beschämend, dass in einem der reichsten Länder der Welt ein solch 'mittelalterliches' Almosensystem überhaupt notwendig ist.

Porträt von Luise Molling
Luise Molling, Politologin und Mitbegründerin des "Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafel"Bild: privat

Luise Molling hat das "Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" mit gegründet. Sie weist darauf hin, dass für in Not geratene Menschen die Grenzen zwischen garantierten Rechten und einer willkürlichen Hilfe auf Almosenbasis verschwimmen: "Es kommt immer häufiger vor, dass Jobcenter auf die Tafeln verweisen, wenn das Geld nicht reicht." Das Ergebnis dieser Praxis: Rechtsansprüche würden zunehmend durch private Wohltätigkeit ersetzt. Dabei definiere das deutsche Grundgesetz, so die Politologin Molling, die Daseinsfürsorge als öffentliche Aufgabe.

Wo sich der Sozialstaat zurückzieht

Wo fängt die Verantwortung des Staates an, wo hört sie auf? Inwieweit kann und soll sie durch zivilgesellschaftliches Engagement ersetzt werden? "Über diese Fragen lässt sich vortrefflich streiten", sagt Professor Sebastian Braun, Leiter des Forschungszentrums für Bürgerschaftliches Engagement an der Humboldt Universität in Berlin. In verschiedenen staatlich unterfinanzierten Bereichen, so Braun, werden in Zukunft voraussichtlich immer mehr Menschen ehrenamtlich arbeiten – etwa bei der Betreuung in Ganztagsschulen oder in der Altenpflege. "Hier hat sich bereits in den letzten zehn Jahren eine aktive zivilgesellschaftliche Szene entwickelt."

Porträt von Sebastian Braun
Sebastian Braun, Leiter des Forschungszentrums für Bürgerschaftliches Engagement an der Humboldt Universität in BerlinBild: Malte Spindler

So sammeln Schulfördervereine Spenden von Eltern oder von Unternehmen, um die Schulen besser auszustatten, etwa mit Sport- und Spielgeräten. Diese Vereine fühlen sich jedoch nicht dafür zuständig, Schulgebäude zu sanieren oder Hilfslehrer einzustellen. Sie lehnen es nachdrücklich ab, Defizite im staatlichen Bildungssystem auszugleichen. "Sie treten eher als Themenanwälte auf", sagt Braun, "die bildungsrelevante Themen auf die Agenda schulpolitischer Gestaltung platzieren wollen."

Ehrenamt als Impulsgeber für den Staat

Menschen spüren schnell und direkt, wo in ihrem Umfeld Hilfe gebraucht wird. In jüngerer Vergangenheit waren es die Jugendarbeit, Drogenbekämpfung und Aidsberatung, die ehrenamtlich begannen. Erst danach erkannte der Staat den Handlungsbedarf und wurde tätig. Die Hauptarbeit wird heute von professionell ausgebildeten Kräften getragen. Denn bettlägerige Menschen zu pflegen oder schwer erziehbare Jugendliche zu betreuen, gehört in die Hände von Fachpersonal. Ehrenamtliche Helfer sind in vielen sozialen Bereichen nur noch unterstützend tätig.

Ein Streetworker unterhält sich in den Räumen der Anlaufstelle "Underground" in Würzburg mit zwei Besucherinnen.
Jugendarbeit in Würzburg: Ein Streetworker in der Anlaufstelle 'Underground'Bild: picture-alliance/dpa

Das ist das große Potential des Ehrenamts: es schließt keine Versorgungslücken, sondern es macht sie ausfindig. Doch bei der Tafel-Bewegung ist der Impuls im ehrenamtlichen Umfeld stecken geblieben. Die Notwenigkeit der Tafeln nimmt nicht ab, im Gegenteil, das System scheint sich zu verfestigen.

Tafel-Boom - Linderung statt Lösung

Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V., sieht die Politik in der Pflicht: "Die Hilfe der Tafeln oder gemeinnütziger Organisationen überhaupt ist kein Ersatz für sozialstaatliche Leistungen. Bürgerschaftliches Engagement entbindet den Staat nicht von der Fürsorgepflicht für seine Bewohner. Gemeinnützige Initiativen können Armut nicht beseitigen, aber bei einem Teil der Betroffenen ihre Folgen lindern. Daseinsvorsorge ist Aufgabe des Staates - und muss es bleiben."

Porträt von Jochen Brühl
Jochen Brühl, Vorsitzender Bundesverband Deutsche Tafel e.V.Bild: Wolfgang Borrs

Außer Frage steht, dass es für viele bedürftige Menschen eine Tragödie wäre, wenn es Hilfsangebote wie die der Tafeln nicht mehr gäbe. Zugleich ist es alarmierend, dass man die ehrenamtlich organisierten Tafeln überhaupt braucht. Der Erfolg der Tafeln - und anderer Hilfsorganisationen - droht am Ende sogar die Errungenschaften des Sozialstaats in Frage zu stellen. Denn das tausendfache Engagement Ehrenamtlicher hilft zwar den Betroffenen, entlastet aber auch Politik und Gesellschaft von der drängenden Aufgabe grundsätzliche Lösungen für soziale Probleme zu finden.