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Editorial: Wenn Schlote nicht mehr rauchen

Volker Wagener1. Oktober 2012

Die Energieregion Lausitz, das Agrarland Mecklenburg-Vorpommern, das ehemalige Montangebiet an der Ruhr - alle sind vom Strukturwandel betroffen, was mit tiefgreifenden Veränderungen verbunden ist.

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Ein Storch sitzt bei Zehdenick auf einem Fabrikschornstein Foto: Peer Grimm (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Früher war alles anders. Sogar besser, sagen die einen. Darüber kann man streiten. Als die Fernseher nur schwarz und weiß kannten, da brummte die Montanindustrie an Rhein und Ruhr, die Schornsteine qualmten und das, was das Bruttosozialprodukt so richtig ausmachte, konnte man riechen. Zumindest bis in die 1960er/70er Jahre, danach immer weniger. Arbeitslosigkeit war woanders, im Ruhrgebiet ein Fremdwort. Die Region war wichtig, vor allem volkswirtschaftlich. "Wenn das Ruhrgebiet hustet, hat Deutschland Grippe" - dieser Spruch galt lange. Ein Slogan voller Kraft und Selbstbewusstsein. 

Das Chemiedreieck Halle, Leipzig, Bitterfeld blickt auf eine ähnlich lange Industrie-Tradition zurück. Ein Industriestandort der mit der Einheit seinen Niedergang erlebt. Das Positive: niemand musste mehr unter rostigen Metallleitungen arbeiten, aus denen Säure tropfte. Für diesen Fortschritt waren allerdings rund 60.000 Chemiearbeiter von einem auf den andern Tag ihren Job los. "Wir leben in einer verspäteten Nachkriegszeit", hatte Monika Maron, eine Chronistin Bitterfelds, die Situation der sächsisch-anhaltinischen Industriearbeiter auf den Punkt gebracht.      

Blick auf rauchende Schlote einer Fabrikanlage in der Industriestadt Bitterfeld 1990 Foto: Heinz Behrens (dpa)
Eine Fabrikanlage in Bitterfeld 1990Bild: picture-alliance/dpa

Schöner leben in der Arbeitslosigkeit

Auch in Bitterfeld-Wolfen, der größten Industriezone der alten DDR, kannte man Ende der 1980er Jahre nur Vollbeschäftigung. Doch die hatte ihren Preis. Die sicheren Arbeitsplätze damals bezahlten die Menschen mit ihrer Gesundheit, heute kostet sie die Renaturierung den Job. Die Solarindustrie sollte den Wandel bringen. Eine saubere Zukunftstechnologie statt giftiger Chemieküche. Doch was früher Zehntausenden Lohn und Brot brachte, ernährt heute nur noch wenige Tausend. Die saubere Solartechnologie erlebte eine kurze, aber furiose Boomzeit in Bitterfeld. Und so mancher sah - etwas verspätet - das Versprechen Helmut Kohls eingelöst, wonach auf den sozialistischen Industrieruinen "blühende Landschaften" entstehen sollten. Doch mit den chinesischen Preisen konnten deutsche Solarunternehmen wie Q-Cells nicht mithalten.

Gelungen ist hingegen die Renaturierung des einst vergifteten Landstrichs. Wo früher 180 Tonnen Asche über der Region niedergingen – und zwar täglich – holt sich die Natur nun geraubtes Terrain zurück. Entstanden ist zum Beispiel die Goitzsche, ein 26 Quadratkilometer großes Seengebiet. Auch so lässt sich eine ehemalige Braunkohlegrube nutzen, die im Tagebau betrieben wurde. In Bitterfeld träumen sie schon von baldigen Ruderweltmeisterschaften – warum nicht? Aber ohne Arbeitsplätze ist das alles nicht viel wert.  

Jugendliche sitzen am Strand des Goitzschesee bei Bitterfeld Foto: Peter Endig (ZB Funkregio Ost)
Naherholung in Bitterfeld heute: der GoitzscheseeBild: picture-alliance/ZB

Deutschland horizontal gesehen

Mit dem Ruhrgebiet im Westen und dem Industriedreieck im Osten hat Deutschland zwei prominente Wirtschafts-Großregionen in denen unterschiedlich lange schon Strukturwandel erprobt und gelebt wird. Spätestens mit der Einheit werden die ökonomischen Hauptbaustellen Deutschlands auf der West-Ost-Achse wahrgenommen. Die frühere Nord-Süd-Debatte über ungleiche Lebensstandards im Norden der Republik im Vergleich zum reicheren Süden, ist seitdem fast komplett verschwunden.

Seit Mitte der 90er Jahre dominiert hingegen die Soli-Diskussion. Die gewann mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur bejubelten Einheit an Härte bei den innerdeutschen Verteilungskämpfen. Nordrhein-westfälische Kommunen, allen voran die Ruhrgebietsstädte, klagten sogar vor Gericht gegen den Solidarpakt. Das bankrotte Gelsenkirchen wollte nicht länger Kredite aufnehmen, um die Partnerstadt Cottbus in der Lausitz zu alimentieren. Keine Frage: Gut zwanzig Jahre nach dem Mauerfall trifft Solidarität auf Realität.

Eine alte Frau verlässt ein Haus in Duisburg-Bruckhausen Foto: Torsten Silz
Arme Kommunen im Ruhrgebiet wenden sich gegen den SolidarpaktBild: dapd

Stukturwandel  bleibt eine Herausforderung für die Menschen, die davon betroffen sind: als Gestalter, als Betroffene, als Veränderer.