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Fremdgehen mit Ansage

8. Juni 2011

Wenn zwei sich lieben, ist das schön. Kompliziert wird es, wenn man mehr als einen liebt. Wer polyamor lebt, muss sich da nicht entscheiden, sondern kann mehrere Beziehungen gleichzeitig offen führen. Klingt anstrengend.

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Symbolbild Figur Seitensprung: eine männliche Zeichenfigur ist mit drei weiblichen Zeichenfiguren verbandelt (Foto: Fotolia)
Bild: Fotolia/giz

Bevor Marion Chris traf, hätte sie nicht gedacht, dass sie jemals leben können würde, was sie immer leben wollte: eine offene Beziehung. Das Gegenteil von dem, was sie bis dahin erlebt hatte: monogame Zweierbeziehungen, in denen sie sich schnell vereinnahmt fühlte, in denen der Partner sie für sich alleine haben wollte und in denen schon die enge Freundschaft zu einem anderen Mann eine Belastung war. Mit Chris war das anders.

Eine Sonnenbrille in Herzform (Foto: Fotolia.com)
Schwer verliebt sein...Bild: Jeanette Dietl-Fotolia.com

Die beiden sind seit elf Jahren verheiratet und leben polyamor. Wenn Chris sich in jemand anderen verlieben würde, dann könnte er mit dieser Person und Marions Einverständnis ebenfalls eine Beziehung eingehen, ohne dass er sich dafür von Marion trennen müsste. Das Gleiche gilt für Marion. Wer polyamor lebt, will die Option haben, mit mehr als einem Menschen eine Beziehung offen führen zu können. Es gibt unzählige Möglichkeiten, polyamor zu leben.

Mehr Optionen – mehr Ansprüche

"Es gibt Leute, die leben eine Dreifachbeziehung, in der alle gleichberechtigt sind, es gibt Leute, die leben eine Hauptbeziehung und eine Nebenbeziehung, dann gibt es welche, die sind eher offen für viele und sagen: 'Ah, so eine Gemeinschaft von zwanzig Leuten, die sehr eng zusammen lebt, das wäre doch toll'", sagt Chris. "Und die alle haben eins gemeinsam, nämlich dass sie sagen: Wir möchten unsere Gefühle zulassen dürfen, egal wie." Mit Gefühlen ist das aber so eine Sache, weil sie unberechenbar sind und machen, was sie wollen, egal, welche Theorie dahinter steht.

Viele Menschen reagieren spontan ablehnend auf die Vorstellung, einen Partner nicht exklusiv für sich alleine zu haben, sondern ihn sexuell und emotional zu teilen. Andere empfinden das als weniger belastend, je nachdem, an welche gesellschaftlichen Normen sie gewöhnt sind und wie wichtig das Einhalten von Normen in der Gesellschaft ist, in der sie leben. "Wenn die Ehe eine besonders starke Stellung in einer Gesellschaft hat, dann hat auch die Treuenorm eine besonders starke Stellung", sagt Soziologe Michael Wagner von der Uni Köln. Bestandteil einer Ehe sei ja unter anderem, dass man die Regel befolgen solle, seinem Partner treu zu sein.

Eine Frau und ein Mann als stilisierte Zeichnungen mit Pfeilen nach beiden Seiten (Foto: AV/Fotolia)
...in mehr als einen Partner...Bild: AV/Fotolia

Die Treuenorm sei eine universelle, weltweit geltende Norm, die das Handeln von jedem von uns lenke, aber unterschiedlich stark in einem verankert sein könne. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts gibt es heute vielfältigere Beziehungsformen als noch in den 1950er Jahren, auch wenn sie der Ehe zwischen Mann und Frau rechtlich noch nicht gleichgestellt sind. Normen würden aufgeweicht, so Michael Wagner, sobald eine größere Gruppe von Menschen der Meinung sei, dass sie nicht mehr in die Gesellschaft passten. "Die Treuenorm hat bei uns in Deutschland an Stärke verloren, es ist keine Norm mehr, die von jedem selbstverständlich und unbedingt einzuhalten ist, sondern es ist zur Verhandlungssache geworden zwischen Mann und Frau oder Mann und Mann oder Frau und Frau."

Altes Konzept – neues Etikett

Das Konzept der offenen Beziehung an sich ist in Deutschland nichts Neues, das Etikett "Polyamory" allerdings schon. "Poly" ist griechisch für "mehrere", "amor" lateinisch für Liebe. Viel-Liebe, Mehrfach-Liebe, obwohl es eigentlich passender "Mehrfach-Partnerschaften" heißen müsste. Der Begriff Polyamory schwappte aus den USA nach Europa, seit fünf bis zehn Jahren ist er in Deutschland bekannt und wird als Beziehungsform offen diskutiert und gelebt. Zahlen und Statistiken dazu, wie viele Menschen hier polyamore Beziehungen führen, gibt es nicht, deshalb kann man auch nicht behaupten, Polyamory sei ein Trend in Deutschland.

Ein auf Asphalt gemaltes Herz (Foto: Fotolia)
...weil Liebe unendlich ist. Das ist eine Idee hinter Polyamory.Bild: Fotolia/d-jukic

Auf dem internationalen Buchmarkt sind in den vergangenen Jahren aber zahlreiche Selbsterfahrungsbücher erschienen. Es gibt Diskussionsforen, Chats und Blogs dazu im Internet und in deutschen Großstädten Polyamory-Stammtische, bei denen man sich austauscht. Zweimal im Jahr finden auch bundesweite Treffen statt, mit etwa hundert Teilnehmern. Auch Chris und Marion bezeichnen sich erst seit wenigen Jahren als polyamor lebende Menschen und suchen den Kontakt zu Gleichgesinnten. Seit die beiden zusammen sind, gab es aber erst einmal eine Zeit, in der beide gleichzeitig einen weiteren Partner hatten, und dann eine Zeit, in der nur Chris eine Zweitbeziehung geführt hat.

Mehr Liebe – mehr Selbsterkenntnis

Beide Male war das für alle Beteiligten nicht nur aufregend, interessant und schön, sondern auch viel Arbeit. Zwei Beziehungen brauchen zweimal Energie, Zeit und Aufmerksamkeit, damit sie funktionieren und eine gewisse Balance zwischen Partnerschaften herrscht. Marion kannte Chris' Zweitbeziehung gut, die beiden Frauen waren sogar mit einander befreundet, trotzdem hatte Marion ab einem Punkt Verlustangst. "Ich hatte keine Angst, dass er geht, aber ich hatte das Gefühl, ich bin diejenige, die zu Hause hockt, und mit ihr erlebt er die Abenteuer." Die Lösung war dann nicht, dass Chris sich zwischen den beiden Frauen entscheiden musste, sondern dass alle drei gemeinsam eine Lösung suchen wollten. "Das war anstrengend, da gab es Verletzungen auf allen Seiten, aber trotzdem habe ich meine Frau immer noch mehr geliebt, wenn noch jemand Tolles dazu kam", sagt Chris. Erklären könne er das nicht.

Polyamory ist ganz sicher nicht das Konzept, das alle Beziehungen leichter macht. Marion sagt, nichts rege sie mehr auf als Polyamoristen, die sich als die Entdecker der wahren Partnerschaftsform feierten. Aber beide haben erfahren, dass sie sehr bewusst und offen mit ihren Gefühlen umgehen, sich selbst gut kennenlernen und sich aus pragmatischen Gründen intensiv mit Kommunikation und Konfliktlösungen beschäftigen müssen, wenn sie es ernst meinen mit der Polyamory. Das ist sicher nicht der schlechteste Nebeneffekt, den eine Beziehung haben kann.

Autorin: Marlis Schaum

Redaktion: Sabine Oelze