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Deutschland glaubte nicht an Solidarnosc

31. August 2010

Nach langen Streiks gründeten polnische Arbeiter 1980 die erste freie Gewerkschaft im Ostblock. Damit hatte im Westen keiner gerechnet. Auch in Deutschland staunte man und reagierte zwiespältig.

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Gewerkschaftsführer Lech Walesa 1980 in den Straßen von Krakau (Foto: DPA)
Gewerkschaftsführer Lech Walesa 1980 in den Straßen von KrakauBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb
1980: Der damalige Regierungssprecher Klaus Bölling mit Kanzler Helmut Schmidt (Foto: DPA)
1980: Der damalige Regierungssprecher Klaus Bölling (rechts) mit Kanzler Helmut SchmidtBild: picture-alliance/dpa

Als Mitte August 1980 die ersten Bilder aus Polen ankamen, war man sich am deutschen Regierungssitz in Bonn nicht einig. Die Stimmung schwankte zwischen Bewunderung und Angst. "Persönlich haben wir diese Männer für ihren Mut bewundert", erzählt der damalige Sprecher und Kanzler-Berater, Klaus Bölling: "Doch wir haben uns sehr zurückgehalten, weil wir die regierenden Machthaber nicht provozieren wollten."

Deutschland und die Welt fürchteten eine militärische Intervention aus Moskau. Die Zwickmühle, in der sich die Regierung von Helmut Schmidt damals befand, hat der Historiker Klaus Ziemer ausgiebig analysiert. "Die damalige Ostpolitik war konzipiert als Arrangement zwischen den Regierungen in Ost und West, die Gesellschaften waren dabei nicht vorgesehen", so Ziemer.

Klaus Ziemer, Historiker der Universität Trier (Foto: DW)
Klaus Ziemer, Historiker an der Universität TrierBild: DW

"Als die Gesellschaften zu rebellieren begannen und ihre Rechte einforderten, da wusste man in Bonn keine Lösung - denn einerseits waren es die gleichen Werte, die man im eigenen Land unterstützte, andererseits aber hatte man sich längst mit kommunistischen Regimen arrangiert, die demokratisch nicht legitimiert waren", erinnert sich Ziemer.

Status quo in Gefahr

Im Deutschland des Jahres 1980 bestimmte der sogenannte Wandel durch Annäherung die Politik. Die nächste Bundestagswahl und der deutsch-deutsche Dialog standen vor der Tür. Streikende Massen in Polen sah man da eher als eine Gefahr für die politische Ordnung. Daran erinnert sich auch Edward Klimczak, ein polnischer Oppositioneller und Dozent an der Freien Universität in Berlin. Im August 1980 organisierte er Info-Veranstaltungen in Westberlin. Er beobachtete dabei, dass man die polnischen Arbeiterstreiks als störend empfand. "In Deutschland hatte man sich längst mit den Kommunisten arrangiert und es galt der Spruch 'Lieber rot als tot'", so Klimczak. "Die katholischen Gewerkschaftler aus Polen schienen dagegen befremdlich."

Das sieht Klaus Bölling ähnlich und erinnert sich an die damalige Haltung des "Architekten der deutschen Ostpolitik", Egon Bahr. Dieser habe den Anfang von Solidarnosc eher unfreundlich beurteilt, so Bölling über Bahr. Man solle sich an dem von der Sowjetunion und den US-Amerikanern festgelegten Status quo in Europa orientieren, war dessen Meinung. Die auch von anderen geteilt wurde. Die Männer in Danzig würden die Stabilität gefährden, größere Unruhen seien möglich, die Sowjetunion könnte intervenieren - so lauteten die Ängste, wie Bölling heute berichtet.

Deutschland gut informiert

Schlagzeilen in einer Zeitung (Foto: DW)
Solidarnosc war über Wochen ein Topthema in deutschen Zeitungen, hier im August 1980Bild: DW

Dass sich in Deutschland die Angst mit Aufregung mischte, zeigen auch die Schlagzeilen von damals. In vielen Zeitungen dominierte das Thema zwei Wochen lang die ersten Seiten. Der "Spiegel" titelte zwei Mal nacheinander mit Nachrichten aus Danzig. Vor dem Fernsehen rieb man sich ebenfalls die Augen. Deutsche TV-Sender - ARD und ZDF - wurden von den Gewerkschaftlern in die Werft eingeladen. Polnische Sender dagegen mussten draußen bleiben. Weil man Manipulationen befürchtete, ließ man nur westliches Fernsehen rein. Diese berichteten über mehrere Wochen über die Streiks.

Tausende Arbeiter forderten damals mehr Rechte und Demokratie, sowie die Zulassung freier Gewerkschaften. Im Westen glaubte man nicht an deren Erfolg. "Die Streiks waren unsere einzige Chance, denn wir wussten, dass es nur mit friedlichen Mitteln geht", sagt Lech Walesa heute, damals Arbeiterführer in der Danziger Werft. "Die Deutschen wunderten sich schon, warum wir mit Streiks den Kommunismus bekämpfen wollten. Aber wir wussten, dass nur dieser Weg eine Chance bietet - sonst schlagen uns die Sowjets nieder", erzählt er.

Ende August 1980 beugten sich die kommunistischen Machthaber dem Druck der Massenbewegung. Wenige Monate später waren schon zehn Millionen Polen Mitglieder in der ersten freien Gewerkschaft im Ostblock, Solidarnosc.

Schriftzug Solidarnosc auf einer Wand (Foto: DW)
Bild: DW

Heftige Propaganda in der DDR

In Deutschland nahm man die Nachricht mit Staunen und Zurückhaltung auf. Kurz zuvor hatten Helmut Schmidt und Erich Honecker ein Treffen in der DDR vereinbart. Doch nach den neuesten Nachrichten aus Polen griff Schmidt zum Telefonhörer, erzählt Bölling. "In diesem Gespräch wurde klar, dass Honecker kein Treffen mehr wollte. Er befürchtete, dass der berühmte Funke aus Polen in die DDR überspringen könnte. Also hat man sich geeinigt, die Reise zu verschieben."

Honeckers Angst haben dann auch bald die Menschen in der DDR zu spüren bekommen. Zuerst wurden die Ereignisse in Polen tot geschwiegen, dann kam die Propaganda. Der DDR-Dissident Ludwig Mehlhorn erinnert sich: "Am Anfang haben viele in der DDR die Polen bewundert, aber das änderte sich schnell, als die heftige Propaganda begann."

Der ehemalige DDR-Oppositionelle Wolfgang Templin (Foto: DW)
Der ehemalige DDR-Oppositionelle Wolfgang TemplinBild: DW

Auch der DDR-Oppositionelle Wolfgang Templin spricht von einer "perfiden Kampagne" damals. "Man hörte verstärkt antipolnische Witze oder Bemerkungen über faule Polen, die den Sozialismus ruinieren wollen", erinnert sich Templin.

Kurz darauf wurde die Visumspflicht eingeführt, Kontakte nach Polen wurden erschwert. "Wer mit Polen sympathisierte, musste mit Schikanen, Arbeitsplatzverlust, Verfolgung und Verhaftung rechnen", erzählt Templin. Hinzu kam die Angst vor einer militärischen Intervention, zumal die DDR eine 400.000 Mann starke Armee hatte. "Jeder wusste, dass es im Ernstfall zum richtigen Kampf, zum Blutvergießen gekommen wäre", so Mehlhorn.

"Es war eine etwas opportunistische Politik"

30 Jahren später sieht die Welt anders aus. Vom Status quo des Jahres 1980 ist nichts mehr übrig geblieben. Die polnischen Proteste von 1980 gaben den entscheidenden Impuls auf dem Weg zum freien Europa - Historiker und Politiker in Deutschland sind sich heute darüber einig. Manche, die damals die Politik gestalteten, haben heute einen anderen Blick auf die Geschehnisse. "Aus heutiger Perspektive können wir sagen, es war eine etwas opportunistische Politik", sagt Bölling. "Das würde ich mit Blick auf die Ereignisse nicht abstreiten wollen." Bölling erinnert sich, dass erst ein Jahr später viele Deutsche ihre Solidarität mit Polen entdeckten, als nämlich der Kriegszustand verhängt wurde und viele Hilfspakete verschickt wurden.

Die Gewerkschaftler von damals erklären heute, dass sie die deutsche Haltung dennoch verstanden haben. So sagt Lech Walesa, er nehme den Deutschen nichts übel. "Die Deutschen wollten dafür sein, aber konnten sich nicht wirklich anders verhalten", sagt er und ergänzt in seiner typischen, bildhaften Sprache: "Das hätte die Sowjets nur in Alarmbereitschaft versetzt und wir wollten sie eher einschläfern, daher war das dann schon ganz in Ordnung."

Autorin: Rozalia Romaniec
Redaktion: Kay-Alexander Scholz