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Sektenboom in Russland

Erik Albrecht25. Dezember 2008

Bis zu 800.000 Russen gehören verschiedenen Sekten an. Zielgruppe sind vor allem Jugendliche, aber auch ältere Menschen. Der weit verbreitete Aberglaube in Russland ist für die Gruppierungen ein perfekter Nährboden.

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Zeugen Jehovas vor einem Gericht in Moskau (16.6.2004, Quelle: AP)
Vor allem die Zeugen Jehovas sind in Russland stark vertretenBild: AP

Woher die 19-jährige Wika ihr Wissen über Sekten nimmt, kann sie selbst kaum sagen. Zwar hat sie in der Schule Religion als Wahlfach gehabt. Doch mehr als Geschichten aus der Bibel hat sie dort nicht gelernt. Jeder mit gesundem Menschenverstand müsse doch einsehen, dass Sekten gefährlich seien, meint die junge Frau. Doch Alexander Kuzmin vom Saratower Zentrum für Religionsforschung warnt: "Wenn man heute einen beliebigen Russen fragt, was eine Sekte ist, wird er antworten, dass Sekten schlecht sind. Wenn man dann nach dem Warum fragt, kann er nicht antworten, weil nicht genug informiert wird über Sekten. Und wer nicht Bescheid weiß, bleibt in der Risikogruppe."

Das Thema Sekten bleibt in Russland aktuell. Erst im Oktober stürmte die russische Polizei das Hauptquartier der Sekte "Aschram Schambala", die für das Verschwinden vieler Menschen verantwortlich sein soll. Im Mai ging das so genannte Drama von Pensa zu Ende: 30 Menschen hatten sich mit reichlich Proviant in ein Tunnelsystem zurückgezogen und fast 200 Tage auf das Ende der Welt gewartet. Schätzungen zufolge gehören bis zu 800 000 Menschen in Russland verschiedenen Sekten an. Zielgruppe sind vor allem Jugendliche, aber auch ältere Menschen.

Wie ein Virus

Pawel Kostylew von der philosophischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität zweifelt an der Zahl. Viele Angehörige wechselten so häufig ihre Sekten, dass sie mehrfach gezählt würden. Insgesamt sei die Lage ruhiger als in den 1990er Jahren. Neben den Zeugen Jehovas sind vor allem New-Age-Bewegungen stark in Russland. "New-Age-Vertreter vermischen eine Reihe unterschiedlicher Religionen. Auf der einen Seite glauben sie an Gott, auf der anderen an das Karma. Das wird wie ein Virus weitergegeben. Es gibt ja ein Phänomen psychologischer Ansteckung. Und das trifft auf andere neue Religionsbewegungen weniger zu als auf New-Age", erläutert Pawel Kostylew.

Gottesdienst in einer Orthodoxen Kirche in Moskau (7.1.2007, Quelle: DPA)
Die Positionen der Orthodoxen Kirche haben wenig mit dem Leben Jugendlicher zu tunBild: picture-alliance/ dpa

Die einzige Impfung sei ein vernünftiger Religionsunterricht, glaubt Kostylew. Doch für viele Jugendliche haben die Positionen der orthodoxen Kirche wenig mit ihrem Leben zu tun. Erst Anfang Dezember stellt die Kirche einen Unterrichtszyklus vor, der die Emanzipation verurteilt und Sex mit keinem Wort erwähnt. Dadurch werde sehr viel verurteilt, was für Jugendliche wichtig ist, sagt die 19-jährige Russin Wika. Und wenn man Leuten etwas verbiete, bekämen sie erst Recht Lust darauf.

Alltagsphänomen Aberglaube

Für Alexander Kusmin ist zudem der immer noch tief verwurzelte Aberglaube eine Gefahr: "Wenn sie eine russische Zeitung aufmachen, finden sie unzählige Anzeigen von Astrologen und Wahrsagerinnen. Das sind natürlich keine Sekten. Aber Sekten operieren auf so einem okkulten Nährboden." Wika glaubt nicht an die unzähligen abergläubischen Verhaltensregeln die in Russland existieren. Ihre Freundin Ksenia schon: "Zum Beispiel klettern wir vor unseren Prüfungen aus dem Fenster und rufen 'Für Lau'. Oder wir kritzeln uns eine Eins ins Prüfungsbuch und öffnen es bis zum Examen nicht mehr. Das ist vielleicht Unsinn aber mir scheinen das Volksweisheiten zu sein."

Ein leichtes Opfer für obskure Sekten wird Ksenia durch ihren Aberglauben allerdings noch lange nicht. Doch vor allem, weil sie sich selbst über Sekten informiert hat.