1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Öl und Politik in Aserbaidschan

Vladimir Müller 10. Juli 2006

Seit dem Zerfall der Sowjetunion erlebt Aserbaidschan einen ungeahnten Wirtschaftsaufschwung. Das Land mit 8,5 Millionen Einwohnern im Südkaukasus ist reich an Ölvorkommen, doch geplagt von Korruption und Autokratie.

https://p.dw.com/p/8jJf
Trügerische Idylle: Ein Minarett vor Öltürmen im Kaspischen MeerBild: AP

Baku ist im Boom: Unzählige Baustellen im Zentrum der Stadt vermitteln den Eindruck einer dynamischen Wirtschaft. Westliche Markengeschäfte in und um die Fußgängerzone, Luxuslimousinen deutscher Provenienz und nicht weniger exklusive Geländewagen neben den russischen Zhiguli und Wolga gleiten langsam im Stau. Doch hinter dieser Fassade - sagt Isa Gambar, Chef der oppositionellen Musavat-Partei - befinde sich ein "autoritäres, kriminelles und korruptes Regime". Staatspräsident Ilcham Alijev habe die Macht von seinem Vater Heydar quasi geerbt. "Die letzten Parlamentswahlen im November 2005 wurden gefälscht wie schon die Präsidentschaftswahlen zwei Jahre zuvor, als Ilcham nach einem Herztod seines Vaters zum Oberhaupt Aserbaidschans wurde". "Zurzeit geht's bergauf. Alles wird besser, nicht schlechter. Der Lebensstandard hat sich doch etwas gebessert," meint Dschamil, ein 36-jähriger Touristik-Manager. Vom neuen Ölreichtum des Landes spüre er selbst nichts, er weiß aber, dass riesige Erträge ins Land fließen.

Nach dem Vorbild Kuwaits

Den Anfang machte die Pipeline von Baku über Tbilissi nach Ceyhan, die 2005 feierlich eröffnet wurde. Von Aserbaidschan über Georgien soll sie bei voller Auslastung in den türkischen Mittelmeerhafen und von da auf den Weltmarkt täglich eine Million Barrel Öl pumpen. Eine rund vier Milliarden Dollar teure Investition unter Federführung des britischen BP-Multi, die noch der alte Heydar Alijew 1994 eingefädelt hatte. Weitere Öl- und Gasgewinnungsprojekte folgten. Laut Ingilab Ahmadov, Direktor des Public Finance Monitoring Center in Baku bekomme Aserbaidschan durch vier Großprojekte in der Öl- und Gasindustrie in den nächsten 15 bis 20 Jahren insgesamt etwa 170-180 Milliarden Dollar.

Aserbaidschan: Baku - Hotel Europa
Das Hotel "Europa" in der Boomtown BakuBild: picture-alliance/ dpa

"Eine gigantische Summe angesichts eines Staatshaushaltes von nur zwei Milliarden Dollar im Jahr 2005. Und eine solide Stütze für das Regime. Denn ein erheblicher Teil der Ölgelder verschwindet offensichtlich in der 'obersten Etage'", so Finanzexperte Ingilab Ahmadov.

Korruption als Altlast sowjetischer Zeiten

"Wir tragen immer noch am Ballast aus der Sowjetzeit einer uneffektiven Staatsverwaltung. Daher können auch Kontrollorgane nicht effektiv funktionieren", sagt Ahmadov. "Das Problem der Korruption ist außerordentlich schwer. Wenn wir es nicht lösen, bleibt die Nutzung der Ölerträge zum Wohl der Gesellschaft fraglich." Ohne schmieren geht gar nichts im "Land der Feuer" wie Aserbaidschan wörtlich heißt.

Der bereits arrivierte Dschamil, der eigentlich Englischlehrer war, fand in der Touristik-Firma seines Onkels eine einträgliche Stellung. Laut Dschamil muss man einen guten Bekanntenkreis haben und eine gewisse Nähe zu den hohen Chargen der Macht. Ohne diese Nähe gebe es keine Möglichkeit, irgendwelche Höhen zu erreichen." Eine fast poetische Beschreibung von gesellschaftlichen Spielregeln und Austauschbeziehungen, die die innere Effizienz des Systems unbarmherzig nach unten drücken.

Noch immer 40 Prozent unter der Armutsgrenze

Offiziellen Angaben zufolge leben 40 Prozent der Menschen im Land unter der Armutsgrenze. Das märchenhafte Wirtschaftswachstum von 30 bis 40 Prozent erscheint angesichts dieses Elends im anderen Licht. Dennoch: Obwohl im Ölsektor zurzeit nur etwa 20-30.000 Menschen Arbeit finden, gibt es im Großstadtgebiet erhebliche Sickereffekte - die neuen Reichen geben Geld aus für aller Art Dienstleistungen.

Ölfeld in Aserbaidschan
Ölfeld in AserbaidschanBild: picture-alliance/ dpa

Doch große Änderungen sind in Aserbaidschan vorläufig nicht zu erwarten, meint Politik-Experte Ilgar Mammadov. Die wichtigste Ursache für die scheinbare Stabilität des herrschenden Regimes sei die massenhafte soziale Apathie, die von der Regierung kultiviert werde.

Repressiver Apparat unterdrückt freie Meinung

"Solange man keine Gefahr für die Regierung darstellt, lässt man einen in Ruhe. Doch sobald man als moralische Autorität auftritt und so von der Regierung unabhängig wird, dann wird der repressive Apparat in Bewegung gesetzt", sagt Mammadov.Eine solche Autorität gebe es im Lande - noch - nicht. Auch nicht in den Reihen der Oppositionsparteien. Laut Mammadov haben sich alle Oppositionsgruppen sich in den letzten 15 Jahren seit der Unabhängigkeit diskreditiert: durch häufige Fehler, Zersplitterung, Uneinheitlichkeit, durch die Unfähigkeit, sich an neue Verhältnisse anzupassen. Sie sind sehr altmodisch.

Es gibt Versuche in Aserbaidschan, das gesellschaftliche Leben jenseits der herkömmlichen Politik neu zu organisieren. Emin Milli vom Zentrum für Europäische Studien ist 26 und aktiv im Alumni Network - einem Netzwerk von jungen Aserbaidschanern, die Studienerfahrungen im Ausland haben. Die etwa 700 Teilnehmer sind vor allem über das Internet miteinander verbunden - eine lose Gruppierung, keine Organisation. Gedankenaustausch über Demokratie, Liberalismus, Religion stehe im Vordergrund, erzählt Emin. Sie machten sich aber auch konkrete Gedanken darüber, wie man das Ölgeld sinnvoll einsetzen könnte. In einem Aufruf an den Präsident Alijev fordert das Alumni Network, 5000 junge Menschen zum Studieren ins Ausland zu schicken.

Keine demokratischen Wurzeln in der Gesellschaft

"Ich bin sicher, dass 5.000 Menschen, die nach Europa, Amerika, Japan gehen, um zu studieren, nicht nur Kenntnisse in bestimmten Bereichen des Berufslebens gewinnen. Sie werden auch sehen, dass man die gesellschaftliche Struktur, die staatlichen Strukturen, das politische und wirtschaftliche System auch anders organisieren kann", glaubt Emin. "Man kann es nicht von oben nach unten ändern, man kann nicht in Straßburg oder Brüssel einen Erlass unterzeichnen und dann glauben, dass sich in Aserbaidschan alles ändert."

Erneut Ausschreitungen bei Kundgebung in Aserbaidschan
Die Opposition demonstriert im November gegen die ManipulationBild: picture-alliance/ dpa

Seit 2001 ist Aserbaidschan Mitglied des Europarates. Emin lässt keinen Zweifel daran, dass dies der Normalzustand ist. Das erste christliche Land lag doch einst auf dem Gebiet des heutigen Aserbaidschan, die erste christliche Kirche wurde hier gebaut. Und auch die erste demokratische Republik in einem islamischen Land erlebte ihre kurze Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg in Aserbaidschan: mit einem Parlament, in dem verschiedene Ethnien vertreten waren, wo Frauen schon damals Wahlrecht hatten und wo die Religionsfreiheit herrschte. Trotzig fügt Emin hinzu: "Das demokratische Potenzial hat man noch nicht entdeckt. Viele sehen es noch nicht. Und alle anderen fanatischen Tendenzen, die man hier sehen könnte, sind zu schwach und haben keine Wurzeln in der Bevölkerung, in den Traditionen, um wahr zu werden."