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Tragödien an Europas Grenzen

Sabine Ripperger9. Oktober 2012

Jedes Jahr treten Tausende Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Folter die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer an, um nach Europa zu gelangen. Doch nur wenige schaffen es.

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Bootsflüchtlinge (Foto: AP)
Bild: AP

Allein 2011 sind nach Angaben von Amnesty International schätzungsweise 1500 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen. "Die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten verstoßen mit ihrer Politik der Abwehr von Flüchtlingen und Migranten, die versuchen, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, in vielen Fällen gegen das internationale Flüchtlingsrecht und gegen die europäische Menschenrechtskonvention", erklärte der Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty, Wolfgang Grenz, anlässlich des bundesweiten Flüchtlingstags am 28. September.

Streit über Zuständigkeit

Im April 2011 ertranken rund 200 Menschen im Mittelmeer, als ihr Schiff unterging. Obwohl die maltesischen Behörden Hilfsgesuche erhalten hatten, starteten sie keine Rettungsaktion. Sie vertraten die Ansicht, dass das Schiff sich näher am italienischen Operationsgebiet befinde. Als ein italienisches Schiff schließlich eintraf, konnten nur noch 47 Personen gerettet werden.

Wolfgang Grenz (Foto: dpa)
Wolfgang Grenz: "Flüchtlingspolitik verstößt gegen Menschenrechte"Bild: picture-alliance/dpa

Eine unerträgliche Situation, findet Wolfgang Grenz. "Es darf doch nicht sein, dass Menschen deshalb ihr Leben lassen müssen, weil sich zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht darüber einigen, wer für die Rettung zuständig ist."

Wenige Wochen vor der Tragödie im April verloren 63 andere Flüchtlinge ihr Leben im Mittelmeer. Ein Boot war in Seenot geraten, hatte kein Benzin mehr, die Lebensmittel wurden knapp. Die Menschen verhungerten und verdursteten. Von den in Sichtweite vorbei fahrenden Fischerbooten und Marineschiffen versuchte keines, den Menschen zu helfen.

Das dürfe sich nicht wiederholen, mahnt der Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion. "Grundsätze des Völkerrechts, wie der der Rettung von Menschen in Seenot, müssen uneingeschränkt beachtet werden."

"Europa ist mitverantwortlich"

Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, prangert die Gleichgültigkeit Europas gegenüber den Flüchtlingen an. "Europa ist mitverantwortlich für den Tod dieser Menschen." Besonders Italien, Malta und Griechenland versagten bei der Erfüllung ihrer in EU-Verträgen festgelegten Aufgaben, kritisieren Amnesty und Pro Asyl. So setze Italien durch Abschiebungen nach Libyen Flüchtlinge der Gefahr von schweren Menschenrechtsverletzungen aus. Deutschland nehme dieses Verhalten stillschweigend in Kauf.

Gergishu Yohannes (Foto: dpa)
Gergishu Yohannes kämpft für die Rechte von FlüchtlingenBild: picture-alliance/dpa

Erst vor wenigen Wochen, am 8. September, erhielt Gergishu Yohannes den Menschenrechtspreis 2012 von der Stiftung Pro Asyl. Die junge Frau, die selbst als Minderjährige aus Eritrea nach Deutschland geflohen war, setzt sich unermüdlich dafür ein, dass der Opfer an den Außengrenzen Europas gedacht wird und ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Ihr 20-jähriger Bruder Abel gehörte zu 77 Schiffbrüchigen, die 2009 nach wochenlanger Odyssee im Mittelmeer verhungerten und verdursteten, weil sich niemand zuständig fühlte.

Rund drei Wochen lang trieb das Schlauchboot mit den Flüchtlingen zwischen Libyen, Italien und Malta im Meer. Überlebende gaben an, dass täglich Schiffe an ihnen vorbei gefahren seien, ohne Hilfe zu leisten. Schließlich hätten die maltesischen Behörden den letzten fünf Überlebenden Schwimmwesten gebracht und sie in Richtung der italienischen Insel Lampedusa geschickt.

Angehörige stellt Strafanzeige

Frau Yohannes hatte nach dem Tod der Schiffbrüchigen bei der Staatsanwaltschaft in Italien Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gestellt. Sie hatte Kontakt zu Angehörigen und Freunden der Opfer aufgenommen und sie alle in einer Interessengemeinschaft zusammengeführt. "Und dann haben wir gesagt, dass wir uns zusammentun müssen, damit das weltbekannt wird und dass man das nicht hinnehmen kann, weil es um Menschenleben geht."

Ihrer Strafanzeige werde in Italien jedoch nur zögerlich nachgegangen, kritisierte Yohannes. In Malta habe sich erst gar kein Anwalt zur Einleitung eines juristischen Verfahrens gegen die zuständigen Behörden gefunden.

Kritisch sehen Amnesty International und Pro Asyl den Umgang Deutschlands mit Flüchtlingen aus Syrien, denn Reden und Handeln deutscher Politiker klaffen hier auseinander. Angesichts der anhaltend dramatischen Lage in Syrien müssten in Deutschland lebende syrische Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Mit dem um sechs Monate verlängerten Abschiebungsstopp gebe es keine Rechtssicherheit für diese Flüchtlinge, denn "wer nur geduldet ist, ist nicht in Sicherheit", so Wolfgang Grenz.

Protestaktion gegen Abschottung Europas in Berlin (Foto: dapd)
Berlin: Protestaktion gegen die Abschottung Europas und mangelnde Seenotrettung im MittelmeerBild: Axel Schmidt/dapd

"Kleiner Schritt nach vorn"

Amnesty und Pro Asyl begrüßen andererseits die deutsche Teilnahme am Resettlement-Programm des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR), über das in den nächsten drei Jahren jährlich jeweils 300 Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden sollen. Die ersten 200 sind bereits Anfang des Monats in Deutschland angekommen. "Das ist gut, dass Deutschland das endlich macht. Das ist ein kleiner Schritt nach vorn, aber das reicht nicht", meint Amnesty-Generalsekretär Grenz.

Im Vergleich zu Schweden, das 1800 Flüchtlinge des Resettlement-Programms aufnimmt, oder Norwegen, das 1000 übernimmt, habe Deutschland eine beschämend geringe Zahl aufgenommen.

Mit der deutschen Beteiligung am UN-Resettlement-Programm und dem jüngsten Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz - wonach Asylbewerber in Deutschland Leistungen erhalten müssen, die das Existenzminimum absichern - seien jedoch "erste wichtige Schritte getan, um Flüchtlingen eine Perspektive in Sicherheit zu geben", heißt es vonseiten der Menschenrechtsorganisationen.

Er habe die Hoffnung, so der Generalsekretär von Amnesty Deutschland, "dass wir auch in der europäischen Flüchtlingspolitik die Wende in absehbarer Zeit schaffen werden".