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Historikertag der Vielfalt

Cornelia Rabitz26. September 2012

Mehr als 3000 Teilnehmer sind beim 49. Deutschen Historikertag in Mainz versammelt. Die volle Agenda reicht von den alten Römern bis zur Eurokrise. Ein Gespräch mit dem Historiker Andreas Rödder.

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Eine kaputte Ein-Euro-Münze mit dem Bild von Juan Carlos vor der spanischen Flagge
Bild: picture-alliance/Stephan Persch

Deutsche Welle: Sie haben sich als Schwerpunkt in diesem Jahr das Thema "Ressourcenkonflikte" gewählt. Dabei denkt man nicht unbedingt zuerst an die historische Forschung, sondern an aktuelle Konflikte um Rohstoffe, Wasser, Öl, an Verteilungskämpfe, ja sogar Kriege. Was kann die historische Wissenschaft zum Blick auf diese Probleme, vielleicht sogar zur Lösung beitragen?

Andreas Rödder: Die historische Forschung eröffnet die historische Dimension von Problemen. Was wir als Historiker tun, ist sozusagen ein rückwärts gewandtes Labor aufzubauen, um Konstellationen herauszufinden und zu beschreiben, und zu sehen, wie sich Menschen in anderen Situationen und anderen Zeiten verhalten haben. Das heißt allerdings nicht, dass wir daraus eins zu eins Handlungsanweisungen für die Gegenwart ziehen könnten, aber es hilft uns zumindest, die Gegenwart breiter zu verstehen. Sie brauchen bei einem so großen Kongress, wie wir ihn hier haben, immer ein breites Thema, wo Sie die Geschichte von der Alten Geschichte bis zur jüngsten Zeitgeschichte, von der Regionalgeschichte bis zur globalen Geschichte unter einem Dach versammeln können. Aber wie gesagt, historische Muster, Kontinuitäten, aber auch Wandel solcher Konstellationen und der Art, wie Menschen damit umgehen, das ist unser Anliegen.

Und zugleich geht es uns auch darum, die Vielfalt von Ressourcen und ihren Konflikten zu zeigen. Man denkt an Bodenschätze, man denkt an Wasser - aber denkt man, wenn es um Ressourcen geht, an die Ressource Zeit? Das ist auch ein wichtiges Thema. Denn es gibt guten Grund zu der Annahme, dass wir im Moment einen Beschleunigungsschub erleben, der uns allen die Ressource Zeit immer knapper macht, den man bestenfalls vergleichen kann mit dem Beschleunigungsschub, den wir um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebt haben. Oder die Ressource Vertrauen oder Verrat. Das ist auch ein weiteres Thema, das wir hier haben, insofern spannen wir auch die große Vielfalt von historischen Themen auf.

Andreas Rödder, Historiker Uni Mainz; Copyright: privat
Andreas RödderBild: privat

Haben Sie noch ein anderes Beispiel dafür, was ein Ressourcenkonflikt im Blick der Historiker heute sein kann?

Eine wichtige Ressource ist natürlich das Geld. Jetzt ist das Geld an sich gar keine Ressource, es ist vielmehr ein Zeichen, das auf etwas anderes verweist. Das erleben wir heute bei den Euro-Bonds, das erleben wir seit der Einführung des Papiergelds, das haben wir aber auch in allen möglichen Wechselgeschäften schon früher erlebt. Und insofern ist auch das Geld, die Börse, ein durchgängiges Thema von Ressourcenkonflikten, an dem wir auch sehen, dass die gegenwärtige Eurokrise etwas ist, was auf eine lange historische Tradition von Themen zurückverweist.

Gibt es denn so etwas wie den besonderen oder typischen Blick eines Historikers heute auf die Eurokrise?

Ich denke ja. Ich glaube, wir können dazu eine ganze Menge beitragen. Und deswegen haben wir ganz bewusst kurzfristig noch eine Sektion ins Programm aufgenommen, weil wir gesagt haben, der Historikertag sollte nicht stattfinden, ohne dass wir aus einer historischen Perspektive dazu Stellung nehmen. Ich rede jetzt gar nicht von den konkreten ökonomischen Einzelheiten, sondern in der politischen Dimension können Sie die Eurokrise als Fortsetzung des Problems der deutschen Frage in Europa seit spätestens 1871 ansehen. Es gibt dazu den Begriff der "halben Hegemonie" Deutschlands: Ein Land in der Mitte Europas, das zu stark ist, um sich einfach nur ein- oder unterzuordnen - das sehen Sie heute im EZB-Rat. Aber es ist andererseits zu klein, um den europäischen Kontinent zu dominieren. Das sehen Sie ebenfalls im EZB-Rat. Das ist die Konstellation, bei der noch dazu kam, dass Deutschland um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Powerhouse der technologischen und ökonomischen Entwicklung in Europa war. Auch das ähnelt der heutigen Situation. Es ist die Konstellation, aus der schließlich die beiden Weltkriege in Europa entstanden sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es andere Lösungen, wie die Vergemeinschaftung der zentralen Machtressourcen Deutschlands, zum Beispiel der Schwerindustrie in den 1950er Jahren. Dann die Anfänge der europäischen Gemeinschaft, und dann in den 1990er Jahren die Vergemeinschaftung der Währung. Gerade die europäische Einigung ist von Anfang an im Grund nichts anderes als ein politisches Projekt gewesen, das mit wirtschaftlichen Mitteln betrieben worden ist. Und das ist heute nicht anders. Deswegen ist es wichtig, nicht nur über die ökonomischen Details zu reden, ob wir jetzt den ESM hebeln oder nicht, sondern die historisch-politischen Konstellationen heraus zu präparieren.

Partnerland ist in diesem Jahr Frankreich. Ist jetzt die deutsch-französische Freundschaft, sind die deutsch-französischen Beziehungen reif für die Geschichtsbücher?

Reif für die Geschichtsbücher ist im Grunde alles, was bis vor einer Minute oder noch weniger stattgefunden hat. Alles ist reif für den historischen Blick, aber der wird natürlich umso weiter, je weiter wir zurück blicken. Die deutsch-französischen Beziehungen sind natürlich in der gesamten Neuzeit ein großes Thema, und nach 1945, den 1950er Jahren wurden sie es besonders. Da ist auch eine ganze Menge Geschichtswissenschaft schon geleistet worden. Aber es bleibt ein zentrales Thema, weil das deutsch-französische Verhältnis bis heute die Kardinalfrage in Europa und der Europäischen Union ist.

Charles de Gaulle (r) und Konrad Adenauer unterzeichnen den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag (Foto: dpa)
Bundeskanzler Adenauer und Staatspräsident de Gaulle unterzeichnen den deutsch-französischen FreundschaftsvertragBild: picture-alliance/dpa

Der Historikertag ist einer der größten geisteswissenschaftlichen Kongresse in Europa, 130 verschiedene Veranstaltungen, 66 Fachsektionen, 400 Vorträge - kurzum: ein Mammutprogramm. Was macht eigentlich ein Fachkollege von Ihnen, der dort hin kommt oder ein Studierender, ein interessierter Laie angesichts dieser Fülle? Er hat doch zumindest die Qual der Wahl.

Ich würde zunächst einmal sagen, was wir anbieten, ist ein Luxusproblem. Weil es ein breites, attraktives Angebot gibt. Für mich selbst ist es schwierig, auszuwählen, in welche Sektion ich eigentlich gehen soll. Aber mir ist es allemal lieber, ich habe die Wahl zwischen vielem Gutem und Interessantem, als dass ich nicht weiß, was ich tun sollte. Man trifft hier auch alle möglichen Kollegen und nicht nur die Fachkollegen im engeren Sinne, sondern viele andere, die sich mit Geschichte beschäftigen. Und das gehört ja auch dazu. Neben den Fachsektionen haben wir dann sozusagen den großen Basar, eine Verlagsausstellung mit Büchern, wo sich Autoren und Wissenschaftler begegnen. Und dass sich Leute austauschen, das ist mindestens ebenso wichtig wie die Fachdiskussion.

Gibt es denn auch Themen, über die bei Ihnen so richtig gestritten wird?

Also wir haben sozusagen einen Vorzug und ein Problem zugleich dadurch, dass sich die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren oder Jahrzehnten sehr, sehr pluralisiert hat. Es haben sich ganz viele verschiedene Themen, Richtungen, Zugänge herausgebildet und wir haben da nicht mehr die ganz scharfen Kontroversen und Abgrenzungen wie früher, sondern das existiert sehr friedlich nebeneinander. Der Preis, den man für diese sehr wünschenswerte Pluralisierung zahlt, ist der, dass es die klassische Kontroverse nicht mehr in dem Maße gibt. Streitkultur ist für unser Fach aber wichtig. Der Kampf um das beste Argument gehört schon auch zur Wissenschaft.

Wie ist denn die Situation Ihres Fachs an den Universitäten, wie sieht es zum Beispiel mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs aus?

Unser Fach Geschichte wird an den Universitäten ungeheuer stark nachgefragt. Wir sind hier in Mainz eines der mit Abstand am stärksten studierten Fächer an der gesamten Universität. Nicht nur in Mainz, sondern auch anderswo sind die Geisteswissenschaften an den Hochschulen allerdings nicht gerade üppig ausgestattet. Das heißt, mit übermäßig guten Studienbedingungen können wir nicht aufwarten, aber das ist eine Grundbedingung der deutschen Universität. Es ärgert mich immer wahnsinnig, wenn von politischer Seite dann die Forderung erhoben wird, man brauche ein 'deutsches Harvard' - aber bietet in Deutschland materielle Ausstattung, Lehrverpflichtung, Studierendenzahlen, die uns bei weitem nicht in die Lage versetzen können, ein deutsches Harvard zu bieten. Sie können mit einem 24-PS-Motor eben nicht mit einem Mercedes der S-Klasse mithalten. Die Situation des Nachwuchses ist einerseits schwierig. Allerdings war sie das schon immer. Wir haben innerhalb der Wissenschaft nach wie vor ein krasses Missverhältnis zwischen denen, die sich habilitieren und frei werdenden Professuren.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Historikern, historischer Wissenschaft und Medien?

Das Tempo der Wissenschaft ist ein völlig anderes als das der Medien. Das sind zwei Systeme mit zwei unterschiedlichen Funktionslogiken. Was ich wichtig finde ist, dass man zunächst einmal sagt, wir in der Wissenschaft haben unsere Funktionslogik, das heißt, wenn ich ein Buch schreibe, brauche ich dafür auch richtig viel Zeit, die Uhr in der Wissenschaft tickt langsamer und sie muss langsamer ticken. Und dass die Uhr in den Medien viel schneller tickt, ist mir auch vollkommen klar. Wichtig ist, dass beide Systeme auf dieser Grundlage miteinander ins Gespräch kommen. Wir sollen erst vernünftige Wissenschaft machen - aber dann soll es auch unsere Aufgabe sein, mit der Gesellschaft zu kommunizieren. In dieser Reihenfolge.

Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.