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"Ein Herd der Instabilität"

Anne Allmeling10. Juli 2012

In Saudi-Arabien gibt es Demonstrationen gegen das Regime. Massenproteste hält der Politologe Oliver Schlumberger aber für unwahrscheinlich. Dafür fehle derzeit noch die Voraussetzung.

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Oliver Schlumberger, Professor für die Politik des Vorderen Orients an der Universität Tübingen. (Foto: Universität Tübingen)
Bild: Universität Tübingen

DW: Bei einer Demonstration in Saudi-Arabien ist es am Montag (09.07.2012) zu Unruhen gekommen. Zwei Demonstranten wurden von den Sicherheitskräften getötet. Was hat das für einen Hintergrund?

Oliver Schlumberger: Die Proteste, die sich in der Ostprovinz abspielten, sind entstanden, weil die Sicherheitskräfte des Regimes zuvor einen der bekanntesten schiitischen Prediger verhaftet und angeschossen hatten. Das ist jemand, der als Mitglied der schiitischen Minderheit in Saudi-Arabien immer explizit gegen das Regime agitiert hat, aber auch Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Saudis fordert.

Wir haben hier ein doppeltes Problem: Auf der einen Seite haben wir in Saudi-Arabien – anders als in kleinen Staaten wie Katar oder Bahrain – eine hohe Bevölkerungszahl. Trotz des Ölreichtums gibt es eine ganze Reihe von Arbeitslosen und nicht geklärte soziale Fragen. Auf der anderen Seite hat Saudi-Arabien eine signifikante schiitische Minderheit, die pikanterweise genau dort angesiedelt ist, wo sich die ölreichen Provinzen des Landes befinden, die für das Regime von strategischer Bedeutung sind. Wir haben also eine religiöse Bruchlinie innerhalb der saudischen Gesellschaft. Das Regime versteht diesen latenten Konflikt als Funktion in seiner  Feindschaft zum Iran, anstatt intern auf eine Homogenisierung der saudischen Gesellschaft zu drängen.

Protestzug mit Parolen gegen die sunnitische Königsfamilie in Saudi-Arabien (Foto: Reuters)
Parolen gegen die sunnitische Königsfamilie - Protestzug in der Küstenstadt QatifBild: Reuters

Heißt das, dass die sunnitischen Saudis die Schiiten unterdrücken?

Nicht im Sinne von gezielten Verhaftungen und Folterungen auf religiöser Basis.  Aber als Schiit ist es nahezu ausgeschlossen, eine höhere staatliche Funktion im Beamtenapparat des Regimes zu besetzen. Da gibt es eine klare Ungleichbehandlung.

Sind die Schiiten denn eine reale Bedrohung für das saudische System?

Sie könnten dazu werden, wenn es ähnlich verliefe wie in Bahrain, wo es im vergangenen Jahr massive Proteste gab. Die wurden bei uns hier im Westen als religiöse Proteste interpretiert, was aber nicht der Ursprung war. Der Ursprung war die generelle Unterdrückung von grundlegenden Rechten und Freiheiten. Dass die Mehrheit in Bahrain schiitisch ist und sich besonders davon betroffen fühlt, spielt in der Strategie des Regimes eine Rolle. Es hat nicht nur durch Repression auf die Proteste geantwortet, sondern auch damit argumentiert, dass es sich hier nicht um politische, sondern um rein religiös begründete Aufstände handeln würde. Das ist eine bekannte Strategie, die wir auch in Ägypten, Jordanien und Syrien beobachtet haben. Und mich stört immer, dass diese Argumentation der Regime von den Medien häufig eins zu eins übernommen wird. Natürlich gibt es diese Bruchlinie innerhalb der Gesellschaft, es gibt aber auch andere. Und der Kern des Problems liegt darin, dass es sich hier um Regime handelt, die grundlegende Rechte und Freiheiten unterdrücken – nicht nur für eine religiöse Gruppe, sondern für die gesamte Gesellschaft.

Sie haben das Beispiel Bahrain schon genannt. Könnten sich in Saudi-Arabien ähnliche Massendemonstrationen entwickeln?

Denkbar ist alles. Die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre haben uns alle überrollt. Aber ich denke, es käme nur dann zu Massenprotesten, wenn sich signifikante sunnitische Gruppen der Argumentation der Schiiten in der Ostprovinz anschließen würden. Aber das ist bislang nicht erkennbar. Es gibt vereinzelt Proteste gegen das Regime. Doch sobald ich gegen die wahhabitische Auslegung des Islam argumentiere, die die Hauptlegitimationsquelle des Regimes darstellt, habe ich Repression zu erwarten.

Und wir wissen, dass der Wahhabismus eine der extremsten Auslegungen des Islam ist, die sich das saudische Regime als Staatsideologie zu eigen gemacht hat. Wir kennen Saudi-Arabien als indirekten Förderer internationalen Terrorismus'. Wir wissen, dass Saudi-Arabien jetzt massiv finanziell und mit Waffen in Syrien einsteigt. Wir kennen die Hintergründe aus Bahrain, wo Saudi-Arabien einmarschiert ist, um zu helfen, die Proteste niederzuschlagen. Das heißt, alles in allem sehen wir hier ein Land, das eigentlich ein Herd der Instabilität ist - ganz entgegen dessen, was man von unseren Politikern gerne hört. Da stellt sich die Frage, inwieweit sich Menschenrechtsorganisationen - nicht nur schiitischer Herkunft - solchen Protesten anschließen. Wenn das der Fall wäre, dann könnte sich eine Eigendynamik entwickeln, die zu Massenprotesten führt - ähnlich wie in Bahrain.

Oliver Schlumberger ist Professor für Politik des Vorderen Orients und Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Tübingen.