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Die Enttäuschten der Revolution

Anne Allmeling18. Juni 2012

Eineinhalb Jahre nach dem Sturz von Mubarak und kurz nach der Wahl eines neuen Präsidenten scheint es, als hätten Ägyptens Revolutionäre keine Stimme mehr. Viele sind enttäuscht – und doch haben sie Einiges erreicht.

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Protest gegen die Auflösung des ägyptischen Parlaments
Protest gegen die Auflösung des ägyptischen ParlamentsBild: Reuters

Ungläubiges Staunen, strahlende Blicke, befreites Lachen – Momentaufnahmen vom Tahrir-Platz im Januar 2011. Im Musikvideo zu "Sout Al Horeya" (Stimme der Freiheit) von Hany Adel und Amir Eid erzählen diese Bilder eine fast unglaubliche Geschichte: wie sich das ägyptische Volk seine Freiheit erkämpft. Millionenfach wurde das Lied auf Youtube heruntergeladen. Doch die Aufbruchstimmung, die sich in diesem Clip vermittelt, ist längst verflogen. Eineinhalb Jahre nach dem Sturz von Hosni Mubarak scheint von der so genannten ägyptischen Revolution nicht mehr viel übrig zu sein. Fast wirkt es so, als hätten Demonstranten der ersten Stunde ihre Stimme verloren – und als bliebe die Freiheit nur Fiktion.

Die Macht des Militärs

Mit Slogans wie "Das Volk will den Sturz des Regimes" waren Hunderttausende Ägypter Anfang des vergangenen Jahres auf die Straße gegangen. Wer sie waren und woher sie kamen, schien keine Rolle zu spielen: Gemeinsam jagten sie den langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak aus dem Amt, forderten Demokratie und Mitbestimmung. Als dann das Militär die Macht übernahm, schien der Übergang zu einer neuen Ära besiegelt zu sein. Schließlich hatte sich der Militärrat dazu verpflichtet, die Macht innerhalb weniger Monate an eine zivile Regierung abzugeben. Doch das ist bis heute nicht geschehen – im Gegenteil. Für viele Ägypter sieht es so aus, als wolle der Militärrat mehr denn je am alten System festhalten.

Urteile des Verfassungsgerichts sorgen für Proteste in Ägypten (Foto: Reuters)
Urteile des Verfassungsgerichts sorgen für Unmut und ProtestBild: Reuters

"Sanfter Staatsstreich" der alten Kräfte

Die Auflösung des erst vor wenigen Monaten gewählten Parlaments und die Entscheidung, dass Mubaraks letzter Ministerpräsident Ahmed Schafik zur Stichwahl um das Präsidentenamt am Sonntag (17.6.2012) antreten durfte, interpretieren viele Beobachter als "sanften Staatsstreich" der alten Kräfte, die im Militärrat ebenso vertreten sind wie im Obersten Gericht und in der Verwaltung.

Doch gleichzeitig sehnen sich viele Ägypter nach Ruhe und Ordnung. Sie leiden unter der stagnierenden Wirtschaft und der in den vergangenen Monaten sprunghaft gestiegenen Kriminalität. Schon deshalb kann sich ein Teil der Bevölkerung Schafik als neues Staatsoberhaupt vorstellen. "Es gibt viele Menschen in ländlichen Gebieten, an denen die Proteste und Revolten des vergangenen Jahres mehr oder weniger vorbeigegangen sind", sagt Oliver Schlumberger, Professor für Politik des Vorderen Orients an der Universität Tübingen. "Für sie mag Ahmed Schafik ein Repräsentant für mehr Stabilität sein."

"Wahl zwischen Pest und Cholera"

Viele sehen in dem ehemaligen General allerdings vor allem einen Repräsentanten des alten Regimes – und hoffen, dass Mohammed Mursi der neue Präsident wird. Der gemäßigte Islamist gilt als wenig charismatisch, ist vielen Ägyptern aber lieber als Mubaraks ehemaliger Ministerpräsident. Als Präsident der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit führte Mursi die Muslimbrüder in die Parlamentswahl. Mit 45 Prozent der Stimmen wurden sie die stärkste politische Kraft in Ägypten. Jetzt hoffen die Muslimbrüder auf ein ähnlich deutliches Ergebnis. Bei der Stichwahl konnten sich die Ägypter für die Muslimbrüder oder das Militär entscheiden. Das offizielle Ergebnis wird voraussichtlich Donnerstag nach der Wahl feststehen.

Noch immer haben die Frauen in Ägypten weniger Rechte (Foto: DPA)
Noch immer haben die Frauen in Ägypten weniger RechteBild: picture-alliance/dpa

Aufruf zum Boykott

Doch gerade viele Aktivisten der ersten Stunde halten keinen der beiden Präsidentschaftskandidaten für wählbar. Sie hatten in den vergangenen Tagen zum Boykott der Wahl aufgerufen, die sie als "Wahl zwischen Pest und Cholera" bezeichnen. Denn eine ganze Reihe von Ägyptern ist enttäuscht von der so genannten Revolution. Ihre Forderungen nach Mitbestimmung, einer zivilen Regierung und einer unabhängigen Justiz sind bislang auf der Strecke geblieben. "Die liberalen Kräfte, die Ägypten zu einer säkularen Demokratie machen wollten, scheinen im Moment stark geschwächt zu sein", sagt Asiem El Difraoui, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Gerade Frauen, die den Revolutionären sehr geholfen haben, haben durch die Revolution nicht viel an Emanzipation gewonnen." Der Unmut der liberalen Kräfte darüber, dass der Sturz des Regimes nicht gelungen ist, scheint zu wachsen. Schon ist von Großdemonstrationen die Rede für den Fall, dass die Präsidentschaftswahlen nicht fair ablaufen.

Wählerin in Kairo REUTERS/Suhaib Salem THE DAY)
Geringe Wahlbeteiligung in KairoBild: Reuters

Zersplitterte Opposition

Wie groß die Gruppe der enttäuschten Revolutionäre ist, lässt sich allerdings kaum ermitteln. Denn die vormals geeinte Opposition ist völlig zersplittert, und die Trennlinien in der ägyptischen Gesellschaft verwischen und ändern sich. "Die Muslimbrüder zum Beispiel sind das, was man in Deutschland eine große Volkspartei nennen würde und vereinen unter ihrem Dach sehr unterschiedliche Strömungen", sagt der Politologe Schlumberger. Galten die Islamisten – neben dem Militärrat – bislang als Gewinner der Revolution, dürfte ihr Einfluss spätestens mit dem Urteil des ägyptischen Verfassungsgerichts vom vergangenen Donnerstag (14.06.2012) gesunken sein – zumal auch die Muslimbrüder die hohen Erwartungen vieler Ägypter nicht erfüllen konnten. Säkular eingestellte Bürger fürchten ausserdem, dass eine Alleinherrschaft der Islamisten Ägypten zu einem islamischen Staat werden ließe.

Ägypter in Kairo protestieren gegen die Präsidentenwahl (Foto: DPA)
Ägypter in Kairo protestieren gegen die PräsidentenwahlBild: picture-alliance/dpa

Errungenschaften der Revolution

Trotz aller Unsicherheit und Enttäuschung scheint es aber eine Gewissheit zu geben: dass es den Ägyptern auch künftig nicht schlechter gehen wird als unter Mubarak. "Selbst wenn es eine Militärdiktatur gegen sollte, sagen Ägypter aller politischen Schattierungen: Das Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen", sagt Nahost-Experte El Difraoui. "Es wird nie wieder eine solche Diktatur geben wie unter dem Mubarak-Regime." Sollte das alte Regime tatsächlich an der Macht bleiben, ist es alles andere als unwahrscheinlich, dass die Revolutionäre der ersten Stunde wieder ihre Stimme erheben werden. Sie mögen enttäuscht sein, aber sie haben keine Angst. Denn viele Errungenschaften der Revolution, wie die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit und der Zusammenbruch großer Teile des alten Repressionsapparates, sind nicht mehr umzukehren. Das Musikvideo "Sout Al Horeya" auf Youtube ist ein Zeichen dafür.