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Die Kunstschau

Sabine Oelze8. Juni 2012

Fast ein Drittel der Teilnehmer in Kassel sind Frauen. Viele von ihnen haben zu Lebzeiten keinen Ruhm erlangt. Die Documenta rückt ihr Werk in den Mittelpunkt. Und holt außerdem junge Künstlerinnen auf die Bühne.

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Schmetterling sitzt auf einer Blume Foto: Uwe Zucchi dpa/lhe
Schmetterlingsbeet von Kristina BuchBild: picture-alliance/dpa

Genau fünf Minuten steht die blonde Frau vor dem Mikrophon. Sie sagt kein einziges Wort. Stattdessen kaut sie auf ihren Fingernägeln herum und lässt es in den Lautsprechern unangenehm knacken. Die 13. Documenta beginnt mit der Performance einer Frau, der Künstlerin Ceal Floyer. Banale, aber auch sehr persönliche Konzeptkunst mit einfachen Mitteln in Szene gesetzt. Mit ihrem "Nail Biting"-Auftritt hatte Floyer 2001 in der Birmingham Symphony Hall Premiere. Nun wird es in Kassel im Staatstheater wiederaufgeführt.

Künstlerinnen auf Augenhöhe

So viele Teilnehmerinnen wie auf der dOCUMENTA (13) hat es in der Geschichte der Weltkunstausstellung in Kassel noch nicht gegeben. Und das, obwohl die künstlerische Leiterin Carolyn Cristov-Bakargiev bereits die zweite Frau ist, die eine Documenta leitet. Doch erst der Amerikanerin mit bulgarischen Wurzeln und Wohnsitz in Italien gelingt es, die Frauen so selbstverständlich neben den Künstlern zu präsentieren, dass wirklich niemand Grund hat zu unken, dahinter stecke der Versuch, eine Frauenquote durchzusetzen. Ohne viel Aufhebens behandelt Carolyn Cristov-Bakargiev alle gleich und gibt den Kunstwerken vor allem eins: viel Luft und Raum, die ihnen innewohnende Energie zu entfalten.

Ausstellungen in der Ausstellung

Die Italienerin Anna Maria Maiolino durfte ihre abstrakten Ton-Gebilde, die mal an Würste, Eier, Goudakäse oder Einzeller erinnern, auf das gesamte ehemalige Gärtnerhaus in der Karlsaue, dem Kasseler Schlosspark, verteilen. Ob auf Sesseln, Bett oder Regalen - die abstrakten Körper liegen überall herum und erzeugen eine zerbrechliche, angstbesetzte Atmosphäre.

Bett, auf dem Tonwürste leigen, Foto: DW/Sabine Oelze.
Surreale Wesen bevölkern Möbel und Bett in der Installation "Here & There"Bild: DW/Oelze

In einem Gewächshaus, nur einen Steinwurf davon entfernt, hat die in Berlin lebende georgische Künstlerin Thea Djordjadze ebenfalls eine Architektur geschaffen, die keine sein will. Schutzlos fühlt sich der Besucher in dem gläsernen Raum, in dem Elemente herumstehen, die an eine Wohnung denken lassen: ein Raumteiler mit einem Vorhang, die Sitzschale eines Plastikstuhls. Auf dem Boden befinden sich kleine Treibhäuser, in denen nichts wächst. "Kollaps und Wiederaufbau" ist ein Motto, unter dem die dOCUMENTA (13) steht. Thea Djordjadze stellt einen Schwebezustand her, der zwischen beiden Zuständen die Waage hält.

Blick in eine Kunstinstallation mit Raumteilern Foto: DW/Sabine Oelze.
Mobiliar, das seine Bestimmung zu suchen scheint: Installation von Thea DjordjadzeBild: DW/Oelze

Späte Ehre

Zahlreichen Künstlerinnen verhilft die dOCUMENTA (13) posthum zu ihrem Recht auf Aufmerksamkeit. "Modernist Women" nennt Carolyn Christov-Bakargiev dieses Programm, mit dem sie verkannten Künstlerinnen der Moderne Beachtung schenkt. Hannah Ryggen hat einen Sonderplatz in der Abteilung "The Brain" im Museum Fridericianum, dem Herzstück der Documenta. Wo einst Joseph Beuys seine berühmte Honigpumpe präsentierte, bekommt der Besucher Einblick in das Gehirn der dOCUMENTA (13) - und in die Denkweise ihrer künstlerischen Leiterin. Dort treten uralte und atelierfrische Kunstwerke in Dialog miteinander. Hannah Ryggen lebte in Norwegen. Als Künstlerin und Kommunistin wollte sie das Unrecht der Menschen nicht hinnehmen. In ihre Teppiche verwob sie das Grauen der Geschichte - wie Mussolinis Einmarsch 1935/1936 in Äthiopien.

Abgründige und schöne Werke

Unter die Haut geht auch Charlotte Solomons Gouache-Serie "Leben? Oder Theater?". 1943 wurde die jüdische Künstlerin in Auschwitz im Alter von 26 Jahren umgebracht. Sie war im fünften Monat schwanger. Bilder mit Texten zu einem Singspiel, das auch ihre Lebensgeschichte spiegelt, sind in Vitrinen zu sehen. Sie erzählen von traumatischen Erinnerungen wie sexuellem Missbrauch, dem Selbstmord ihrer Tante und dem Aufstieg des Faschismus in Deutschland. Solche Werke der Verzweiflungen sind Versuche, mittels Kunst das Leben verstehen zu wollen.

Erinnerungen an eine viel weiter zurückliegende Geschichte rufen die "Baktrischen Prinzessinnen" wach. Die acht Figurinen stammen aus dem 3. oder 2. Jahrtausend vor Christus aus Zentralasien, dem heutigen Afghanistan. Die Baktrischen Prinzessinnen sind kostbar und minuziös gearbeitet. Sie sind von zeitloser Schönheit und strahlen eine unantastbare Überlegenheit aus. Durch ihre sitzende Position scheinen sie für immer miteinander verbunden zu sein - als eine in sich ruhende Einheit.

Skulptur Foto: DW/Sabine Oelze.
Baktrische Prinzessinnen heißen die kleinen uralten Figurinen, die im "Brain" ausgestellt werdenBild: DW/Oelze

Feuerwerk der Künstlerinnen

Alle Teilnehmer wurden zuvor zur Einstimmung auf Kassel nach Breitenau geschickt. Das ehemalige Benediktinerkloster wurde ab 1874 als gefängnisähnliches Arbeitshaus und zwischen 1933 und 1945 auch als Konzentrationslager verwendet. Die Berlinerin Judith Hopf zeigt als einzige Arbeiten dort. Ihre maskenartigen Skulpturen verweisen auf ihre Ratlosigkeit, die Geschichte dieses Ortes des Grauens zu verstehen. Viele Kunstwerke der dOCUMENTA (13) lösen ein, was die vorhergehende Kunstschauen versprochen, aber nicht gehalten haben. Ihre inhaltliche Reichweite gibt globale Perspektiven vor. Sie sind politisch, ohne dabei den Zeigefinger zu erheben. Sie blicken zurück in die Zukunft. Was mehr kann eine Ausstellung leisten? Wer die Möglichkeit hat, sollte für die nächsten 100 Tage nach Kassel ziehen, um nichts dieser aufregenden Weltkunstausstellung zu verpassen.