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Debatte um EM-Boykott

Goncharenko, Roman21. Mai 2012

Seit der "Orangenen Revolution" wurde in Deutschland noch nie so viel über die Ukraine geredet wie in den vergangenen Wochen. Deutsche Politiker und Experten finden die Debatte über einen EM-Boykott unausgewogen.

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Das Olympiastadion in Kiew (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa


Wenn Julia Timoschenko sich zum Ziel gesetzt hatte, die deutsche Öffentlichkeit über ihr Schicksal zu informieren, dann hat sie es wohl erreicht. Berichte über den Hungerstreik der inhaftierten ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin belegten im April Platz drei unter den Topthemen der Hauptnachrichten der vier führenden TV-Sender ARD, ZDF, RTL und SAT1. Nur über die Gewalt in Syrien und den Prozess gegen den Massenmörder Breivik in Norwegen wurde mehr berichtet, teilte das Kölner Medienforschungsinstitut IFEM mit. 

Eine so intensive Berichterstattung über die Ukraine hatte es zuletzt während der 'Orange Revolution' im Jahr 2004 gegeben. Die jetzige 'Ukraine-Welle' habe mehrere Gründe, meint Eckart Stratenschulte, Direktor der Europäischen Akademie in Berlin. Zum einen habe Julia Timoschenko eine "geschickte Öffentlichkeitsarbeit" betrieben. Ein anderer Grund sei die kommende Fußball-Europameisterschaft, die im Juni in der Ukraine und in Polen ausgetragen wird.

Intensive Medienberichterstattung über Julia Timoschenko (Foto: EPA)
Im Zentrum des Medieninteresses: Julia TimoschenkoBild: picture alliance/Maximilian Schönherr

Politiker wie Viola von Cramon von Bündnis 90/Die Grünen meinen, Timoschenkos Tochter Jewgenia habe vor allem dazu beigetragen, das Schicksal ihrer Mutter zum Thema in Deutschland zu machen. Die aktuelle Debatte über Timoschenko und den Zustand der Demokratie in der Ukraine kurz vor der Fußball-EM findet von Cramon grundsätzlich richtig. "Mir macht es in der Tat Angst, wie schnell die Entwicklung in der Ukraine seit dem Amtsantritt des Präsidenten Janukowitsch verlaufen ist", sagt von Cramon, die regelmäßig in die Ukraine reist, um sich vor Ort über die Lage im Land zu informieren.

Nein zum sportlichen Boykott

Das Wort "Boykott" ist in der Debatte über die Fußball-EM in der Ukraine besonders oft zu hören. Der Kölner Osteuropa-Experte Gerhard Simon findet diesen Ausdruck missverständlich. Einen sportlichen Boykott lehnt er ab. "Wenn es darum geht, gegenüber der politischen Führung in Kiew deutlichen Protest zu äußern, dann ist es richtig", sagt Simon. Der Politologe würde es begrüßen, wenn führende europäische Politiker, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, sich nicht zusammen mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Stadion fotografieren ließen. Janukowitsch steht seit Monaten in Westeuropa in der Kritik, die Demokratie und den Rechtsstaat in der Ukraine abgebaut zu haben.

Auch Politiker sind gegen einen sportlichen Boykott der Fußball-EM in der Ukraine. "Ein Boykott der Europameisterschaft oder eine Verlegung von Spielen haben nach meiner Auffassung nicht die politische Wirkung, die sich manche von ihr erhoffen", meint der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Mißfelder. Er bezweifelt, dass solche Maßnahmen zu einer Freilassung der ehemaligen Regierungschefin Timoschenko führen würden.

Philipp Mißfelder kritisiert die Ukraine und reist nicht zur EM (Foto: dpa)
CDU-Politiker Philipp Mißfelder reist nicht zur EMBild: dapd

Kritik an Diktatur-Vergleich der Kanzlerin

"Jeder Politiker muss selbst entscheiden, ob er zur Europameisterschaft fahren wird", sagt Mißfelder. Er selbst habe sich dagegen entschieden und fände es richtig, wenn auch die Bundeskanzlerin die Ukraine während der EM nicht besuchen würde. Auch der SPD-Abgeordnete Gernot Erler wird nicht zur EM fahren. Aus Zeitgründen, wie er sagt. Erler findet es richtig, dass sich Kanzlerin Merkel erst kurzfristig entscheiden will. "Wenn sie es offen lässt, bleibt der Druck aufrecht, und es kann ja auch noch sein, dass es positive Signale gibt aus Kiew", so Erler.

Aber noch bleiben solche Signale aus. Bundeskanzlerin Merkel erhöhte unterdessen den Druck auf die Ukraine. In einer Regierungserklärung erwähnte sie kürzlich das Land in einem Atemzug mit Weißrussland. In beiden Ländern würden Menschen unter "Diktatur und Repression" leiden, so die Kanzlerin.

Experten wie der Kölner Politologe Simon halten einen solchen Vergleich für übertrieben: "Die Ukraine ist nicht Weißrussland". Auch sein Berliner Kollege Stratenschulte sieht es ähnlich: "Ich glaube, es wäre sicherlich nicht richtig, die beiden Länder gleichzusetzen". Der SPD-Bundestagsabgeordnete Erler findet ebenfalls den Diktatur-Vergleich der Kanzlerin falsch: "Ich finde, dass über das Ziel hinaus geschossen wird", sagt Erler. Es gebe zwar Repressionen in der Ukraine, doch die Lage sei nicht so dramatisch wie in Weißrussland.

Der Politik-Experte Stratenschulte meint allerdings, dass die Ukraine sich inzwischen mehr in Richtung Weißrussland entwickle. Dazu gehöre zum Beispiel die Verfolgung der politischen Opposition wie im Fall Timoschenko oder "die zunehmende Bedrohung von Presseorganen". Erst vor wenigen Tagen protestierten Mitarbeiter der ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN gegen die plötzliche Absetzung ihres Chefredakteurs und sprachen von einer "Zensur".

Andere Maßstäbe für Ukraine

Sowohl Experten als auch Politiker kritisieren, dass die Ukraine-Diskussion in den letzten Wochen nicht immer ausgewogen geführt worden sei. "Sicherlich war das manchmal übertrieben", sagt Viola von Cramon von den Grünen. Dies habe auch damit zu tun, dass die ukrainische Führung auf deutsche Kritik kaum reagiert hätte.

Grünen-Politikerin Viola von Cramon vermisst eine Reaktion der Ukraine (Foto: dpa)
Wartet auf eine Reaktion der Ukraine: Grünen-Politikerin Viola von CramonBild: picture-alliance/dpa

Der Berliner Osteuropa-Experte Stratenschulte findet, dass sich die Regierung in Berlin durch allzu scharfe Worte in Richtung Kiew dem Vorwurf der "Doppelzüngigkeit" aussetzen würde. "Die Kritik in Richtung der Volksrepublik China ist beispielsweise sehr viel moderater als gegenüber anderen Ländern", stellt der Experte fest. Er erklärt es mit der großen wirtschaftlichen Bedeutung Chinas für Deutschland.

Der Kölner Politologe Simon fügt hinzu, dass auch Russland weniger als die Ukraine von der Regierung in Deutschland kritisiert werde. Doch zwischen den beiden Ländern gebe es einen wichtigen Unterschied: "Anders als Russland will die Ukraine Mitglied der Europäischen Union werden", betont Simon. Für Kiew würden daher andere Demokratie-Maßstäbe gelten als für Moskau.