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Atomausstieg in Zeitlupe

Manfred Böhm / Wolfgang Dick26. April 2012

Kaum ein Unglück hat die Umweltpolitik nachhaltiger geprägt als die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986. Vor allem in Deutschland hatte sie politische Folgen, die bis heute nachwirken.

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Bild: picture-alliance/dpa

Am 26. April 1986 ereignete sich im Atomkraftwerk Tschernobyl der bislang größte Unfall in der zivilen Nutzung der Kernenergie. In Block 4 kam es nach einer Überhitzung des Kernreaktors mit anschließender Kernschmelze zu einer riesigen Explosion. Binnen weniger Tage verbreitete sich die dabei freigesetzte radioaktive Staubwolke über weite Teile Europas. Die Machthaber in Moskau versuchten zunächst, den Vorfall in der Ukraine totzuschweigen. Erst am 28. April meldete die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS einen "Unfall". Zu diesem Zeitpunkt wurde in Schweden bereits erhöhte Radioaktivität in der Luft gemessen.

Das Kernkraftwerk Tschernobyl nach dem Super-GAU (Foto: AP)
Das Kernkraftwerk Tschernobyl nach dem Super-GAUBild: AP

Einen Tag später wurde die Nachricht auch in Deutschland verbreitet. Die gleichgeschalteten Medien in der DDR hielten sich an die offiziellen Mitteilungen der sowjetischen Regierung. Die Berichterstattung der von vielen DDR-Bürgern empfangenen westdeutschen Radio- und Fernsehprogramme wurde als aufbauschend und irreführend kritisiert.

Die Tagesschau meldet am 29. April 1986 den Reaktorunfall in Tschernobyl (Foto: ARD Aktuell)
Tagesschau vom 29. April 1986Bild: ARD-aktuell

Im Westen hatte man den Ernst der Lage zwar erkannt, doch auch hier wollte man offensichtlich die Bevölkerung beruhigen. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) beschwichtigte:  "Wir messen ständig, und bei uns gibt es überhaupt keine Erhöhung der Radioaktivität." Doch die Wolke mit atomar verseuchten Staubpartikeln hatte Deutschland bereits erreicht. Vor allem in Süddeutschland gab es erhöhte Strahlenwerte.

Verdrängte Gefahren und unklare Kompetenzen

Die Zuständigkeit für die Umweltpolitik hatte die damals in Bonn regierende Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Helmut Kohl auf drei Ministerien verteilt: Gesundheits-, Agrar- und Innenministerium. Doch die waren mit der neuen Situation offensichtlich überfordert, hatte man doch die Risiken und Gefahren der Kernkraft bislang weitgehend verdrängt. Selbst das bis dahin schwerste Atomunglück im amerikanischen Harrisburg lag schon sieben Jahre zurück, und die USA waren weit weg.

So gab es weder ein Frühwarnsystem mit eigenen Daten, noch eine funktionierende Infrastruktur, die den Bürgern schnell verlässliche Informationen über akute Gefahren hätte liefern können. Umweltschutz galt generell in den etablierten Parteien immer noch als lästig. Niemand wollte mit dem Thema wirklich etwas zu tun haben, mit Ausnahme der Grünen. Doch die saßen gerade einmal drei Jahre in der Opposition im Bundestag.

Zwang zum Umdenken

Während der Kreml in Moskau immer noch versuchte, das wahre Ausmaß der Katastrophe in Tschernobyl zu verschleiern, ergriffen die westdeutschen Behörden Anfang Mai erste Sofortmaßnahmen. Die Menschen wurden vor dem Verzehr von Milch, Salat und Gemüse gewarnt. Zugleich stritten das Bundesgesundheitsministerium und die Länder über die zulässigen Grenzwerte. Bauern, Einzelhandel und Lebensmittelindustrie forderten unterdessen bereits Entschädigungen.

Auf einem Gemüsefeld wird radioaktive Strahlung gemessen (Foto: dpa)
Verstrahltes Gemüse in BayernBild: picture-alliance / dpa

Zwar war das ganze Ausmaß des Unglücks in der Ukraine längst noch nicht absehbar, doch das Kompetenzgerangel der deutschen Behörden und die Lücken in den Zuständigkeiten erzwangen politische Konsequenzen. Nur fünf Wochen nach der ersten Katastrophenmeldung aus Tschernobyl wurde ein bundesweit zuständiges Umweltministerium gegründet. Das Unglück im ukrainischern Kernreaktor wurde damit zum Auslöser für neue umweltpolitische Aktivitäten, die nicht nur mit Blick auf Tschernobyl längst überfällig geworden waren. Der CDU-Politiker Klaus Töpfer, von 1987 bis 1994 Umweltminister der Kohl-Regierung und späterer Direktor des UN-Umweltprogramms, spricht rückblickend von einer unverantwortlichen Situation: "Bei uns waren Luft und Wasserverschmutzung massiv, und wir hatten viele ungeordnete Müll-Deponien. So konnte es nicht weiter gehen."

Gleiches hätte natürlich auch für den anderen deutschen Staat gelten müssen. Zwar hatte die DDR lange vor der Bundesrepublik einen Umweltminister, von einer wirksamen Umweltpolitik konnte im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat aber keine Rede sein. Die Linie wurde vom SED-Politbüro in Ostberlin und von der Führung in Moskau bestimmt. Doch die hatten ganz andere Prioritäten. Die Folgen von Smog, Waldsterben und saurem Regen waren Ende der 1980er Jahre überall sichtbar und spürbar.

Neue (gesamt-)deutsche Umweltpolitik

Im wiedervereinten Deutschland forderte der Umweltschutz erneut ein schnelles Handeln der Politik. Über 2000 Gesetze und Richtlinien wurden erlassen, die teilweise strengsten der Welt. Und sie zeigten Wirkung: saubere Flüsse, klarere Luft, gesündere Baumbestände und einen nachhaltigen Umgang mit der Umwelt. Das bestätigten auch die Messwerte unabhängiger Beobachter.  Außerdem wurde das gesamtdeutsche Umweltministerium ausgebaut. Mit dem Bundesamt für Naturschutz, dem Umweltbundesamt und dem Bundesamt für Strahlenschutz erhielt es viele zusätzliche Kompetenzen.

Das Problem des Restrisikos von Kernkraftwerken blieb dennoch ungelöst. Die Politik verdrängte das Thema erneut, obwohl Modernisierungen der Atommeiler gefordert wurden und nicht nur Umweltaktivisten immer wieder mahnten, die Atomkraftwerke abzuschalten. Selbst der in der Bevölkerung sehr geschätzte Bundesumweltminister Töpfer konnte in der Atomfrage kaum etwas bewirken: "Ich habe schon am ersten Tag als Bundesumweltminister gesagt, wir müssen eine Zukunft ohne Kernenergie erfinden und vorantreiben. Das ist auch heute noch meine Meinung." Doch Töpfer wurde von der Atom-Lobby ausgebremst. "Der Strom kommt eben nicht aus der Steckdose", so die Befürworter der Atomkraft, die keine Alternative sehen wollten.

Als 1994 die Lasten der Wiedervereinigung deutlich wurden und es wieder darum ging, der Wirtschaft nicht zu viel Kosten zuzumuten, wurde Klaus Töpfer abberufen und vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl durch eine junge ostdeutsche CDU-Politikerin ersetzt: Angela Merkel. Als Umweltpolitikerin verhielt sie sich jedoch unauffällig und zurückhaltend, wie Journalisten rückblickend feststellen.

Helmut Kohl und Angela Merkel (Foto: AP)
Helmut Kohl und Angela MerkelBild: AP

Rot-Grün beschließt Atomaustieg

Nach 16 Jahren im Amt endete 1998 die Ära der Regierung Kohl. Bei der Bundestagswahl gewannen die SPD und die Grünen, jene Partei, die fast 20 Jahre zuvor aus der Umweltbewegung entstanden war. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) machte den Grünen-Politiker Jürgen Trittin auf Vorschlag von dessen Partei zum Bundesumweltminister. Trittin verschärfte in seiner Amtszeit viele Gesetze und sorgte zusammen mit der SPD für Wirtschaftsimpulse im Bereich erneuerbarer Energien. Einen Meilenstein in der Energiepolitik setzte die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000. Mit den deutschen Kraftwerksbetreibern hatte sie einen Vertrag ausgehandelt, der den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie festschrieb.

Seit 2005 wird Deutschland wieder von Koalitionen unter Führung der CDU/CSU regiert. Bundeskanzlerin ist die einstige Umweltministerin: Angela Merkel. Mit ihrem Amtsantritt hatten Umweltschützer große Hoffnungen verbunden. Und in der Tat setzte sich Merkel beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und als EU-Ratspräsidentin für eine ambitionierte Umwelt- und Klimapolitik ein. Doch ihr Ruf als Klimakanzlerin hielt nicht lange. Merkel verschlafe dringende Reformen, weiche ihre Klimaziele auf und setze zu wenig auf erneuerbare Energien, so der Vorwurf. Mehr noch geriet sie jedoch wegen ihrer Energiepolitik unter Druck. Die schwarz-gelbe Koalition verkündete den Ausstieg vom Atomausstieg und beschloss im Oktober 2010 eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke. Das letzte deutsche AKW sollte nun frühestens 2036 abgeschaltet werden, hieß es.

Das AKW Biblis in Südhessen (Foto: dpa)
Atomkraftwerk BiblisBild: picture-alliance/ dpa

Schwarz-Gelb vollzieht doppelten Salto

Erst der schwere Atomunfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima im März 2011 führte bei der Bundeskanzlerin zu einem Sinneswandel. Die studierte Physikerin, die die Risiken der Kernkraft immer für beherrschbar gehalten hatte, bekannte öffentlich: "Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt." Zwei Tage nach dem Reaktorunfall setzte die Bundesregierung die beschlossene Laufzeitverlängerung vorübergehend aus. Die sieben ältesten Atomreaktoren wurden sofort vom Netz genommen. Die Bundesregierung beauftragte eine Ethikkommmission, Vorschläge für einen "Atomausstieg mit Augenmaß" zu unterbreiten. Zusätzlich prüfte ein Expertengremium den Zustand der deutschen Atomkraftwerke. Die Ergebnisse lagen im Mai 2011 vor und waren beunruhigend: An allen deutschen Atomreaktoren wurden Sicherheitsmängel festgestellt.

Kundgebung von Atomkraftgegnern in Rostock (Foto: dpa)
Anti-Atomkraft-Demo 2011Bild: picture-alliance/dpa

Der Bundesregierung reagierte umgehend: Kanzlerin Merkel vollzog eine erneute Wende und warb nun in den eigenen Reihen für einen Atomausstieg bis 2022. Am 30. Juni 2011 wurde darüber im Bundestag abgestimmt: Mit großer Mehrheit wurde das Ende der Atomzeit eingeleitet und die Laufzeitverlängerung damit außer Kraft gesetzt – nur ein halbes Jahr, nachdem sie beschlossen worden war. Nicht zuletzt beugten sich Regierung und Parlament damit auch dem Druck der deutschen Öffentlichkeit. Fukushima hatte die Deutschen mobilisiert. Nach dem Atomunfall in Japan waren Hunderttausende auf die Straße gegangen, um für einen schnellen Atomausstieg zu demonstrieren.