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Prozess gegen Timoschenko

Roman Goncharenko18. April 2012

Ein halbes Jahr nach ihrer Verurteilung hat in Kiew ein zweites Verfahren gegen die ehemalige ukrainische Premierministerin Julia Timoschenko begonnen. Die Vorwürfe politisch motivierter Justiz werden immer lauter.

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Julia Timoschenko vor Gericht (Foto: dpa)
Julia Timoschenko vor GerichtBild: picture-alliance/dpa

Die ukrainische Justiz lässt nicht locker. Rund ein halbes Jahr nachdem Julia Timoschenko wegen Amtsmissbrauchs bei der Unterzeichnung eines Gasabkommens mit Russland zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, beginnt am Donnerstag (19.04.2012) ein neuer Prozess gegen sie. Diesmal ist nicht die Hauptstadt Kiew, sondern das ostukrainische Charkiw Schauplatz des Gerichtsverfahrens. Die 51-Jährige sitzt dort in einem Frauengefängnis.

Die Staatsanwaltschaft wirft Timoschenko unter anderem Steuerhinterziehung in Millionenhöhe vor. Die Vorwürfe betreffen die Zeit in der Mitte der 1990er Jahre. Timoschenko war damals Chefin des Privatkonzerns "Vereinigte Energiesysteme der Ukraine", der eine monopolähnliche Stellung auf dem ukrainischen Gasmarkt hatte und Milliardenumsätze machte. Aus dieser Zeit stammt ihr Spitzname "Gasprinzessin".

Parallelen zum Fall Chodorkowski

Neu sind die Vorwürfe nicht. Bereits 2001 wurde gegen Timoschenko ermittelt. Vor elf Jahren verbrachte sie einige Wochen in Untersuchungshaft, wurde aber freigelassen. Alle Verfahren gegen sie wurden später eingestellt. Zu Unrecht, findet heute die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft.

Portrait von Prof. Dr. Gerhard Simon (Foto: GErhard Simon)
Gerhard Simon zieht Vergleiche mit dem Fall ChodorkowskiBild: Gerhard Simon

Gerhard Simon, Osteuropa-Experte an der Universität zu Köln meint, der Fall Timoschenko erinnere immer mehr an die Prozesse gegen Michail Chodorkowski. Der ehemalige Ölmagnat und Milliardär wurde in Russland wegen Wirtschaftsverbrechen zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Der Unternehmer selbst und der Westen halten aber das Urteil für politisch motiviert. "In den 1990er Jahren haben wenige Leute wahnsinnig viel Geld verdient mit Geschäftspraktiken, die man nur als unsauber bezeichnen kann", sagt Simon. Das gelte sowohl für Russland als auch für die Ukraine. Zu solchen Leuten soll auch Timoschenko gehört haben, vermutet der deutsche Experte. Allerdings sei das in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion übliche Praxis gewesen.

"Politisch motivierte Justiz"

Beobachter weisen darauf hin, dass das neue Verfahren gegen Timoschenko am 13. Oktober 2011 eingeleitet wurde – nur zwei Tage nachdem ein Kiewer Gericht die ehemalige Premierministerin wegen Amtsmissbrauchs verurteilt hatte. Schon der erste Prozess hatte sowohl in der Ukraine als auch im Ausland für Aufsehen gesorgt.

Auch den zweiten Prozess bezeichnen ukrainische Oppositionelle und Experten wie Kostjantyn Dykan vom Kiewer Rasumkow-Zentrum für wirtschaftliche und politische Studien als "politisch" und sprechen von einer "Farce“. Schon vor rund zehn Jahren seien ähnliche Vorwürfe gegen Timoschenko erhoben worden, sagt Dykan. Doch damals sei nichts bewiesen worden. "Timoschenko soll jetzt wohl eine weitere Haftstrafe bekommen", vermutet der Kiewer Experte. Außerdem solle die ehemalige Regierungschefin gegenüber dem Westen als Verbrecherin dargestellt werden.

Bis jetzt scheint aber das Gegenteil der Fall zu sein. Westliche Politiker werfen den ukrainischen Behörden politisch motivierte Justiz vor. Einer von ihnen ist Markus Löning, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung. "Es ist wichtig zu sehen, dass nicht nur gegen Frau Timoschenko, sondern auch gegen viele andere ehemalige Mitglieder ihrer Regierung Prozesse laufen oder schon Urteile gesprochen sind", sagte Löning der DW. Der ehemalige Verteidigungsminister Waleri Iwaschtschenko wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, der ehemalige Innenminister Juri Luzenko bleibt vier Jahre hinter Gittern. Löning fordert "die Regierung in der Ukraine auf, alle diese Menschen jetzt auf freien Fuß zu setzen". "Das sind politisch motivierte Prozesse, die die ehemalige Regierung abstrafen und politische Konkurrenten aus dem Feld schlagen sollen", so der FDP-Politiker.

Portrait von Markus Löning (Foto: dpa)
Markus Löning, Menschenrechtsbeauftragter der BundesregierungBild: picture alliance/dpa

Deutsche Ärzte: Timoschenko verhandlungsunfähig

Dieser Eindruck dürfte sich nun verstärken. Der zweite Prozess gegen Timoschenko beginnt ein halbes Jahr vor der Parlamentswahl in der Ukraine. Die Timoschenko-Partei "Batkiwschtschina" (Vaterland) liegt in Umfragen mit rund 13 Prozent nur knapp hinter der regierenden "Partei der Regionen". Solange Timoschenko in Haft ist, kann sie nicht politisch aktiv sein. Genau das sei der Hauptgrund für die Prozesse gegen sie, glaubt der Kölner Osteuropa-Experte Gerhard Simon: "Frau Timoschenko und damit die Opposition soll und muss aus der Sicht der gegenwärtigen Regierung ausgeschaltet werden – vor Wahlen und möglicht für eine lange Zukunft."

Ob Timoschenko persönlich an den Gerichtsverhandlungen teilnehmen kann, ist allerdings noch offen. Am Mittwoch (18.04.2012) teilten die ukrainischen Behörden mit, Timoschenko lehne aus gesundheitlichen Gründen eine Teilnahme ab. Die inhaftierte Oppositionspolitikerin leidet seit ihrer Verhaftung an Rückenschmerzen und soll demnächst aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus in Charkiw verlegt werden. Die deutsche Bundesregierung führt derzeit Gespräche mit den ukrainischen Behörden über eine mögliche medizinische Behandlung Timoschenkos in der Berliner Charite. Erst vor wenigen Tagen hatten deutsche Ärzte die ehemalige Premierministerin im Gefängnis besucht. Sie halten Timoschenko für verhandlungsunfähig.

Beschlüsse des Kiewer Gerichts und Oberstaatsanwaltschaft zur Eröffnung eines neuen Verfahrens gegen Julija Timoschenko (Foto: DW)
Anklageschrift gegen Julia TimoschenkoBild: DW/Sawizky

Weitere Verfahren möglich

Der neue Prozess gegen Timoschenko beginnt wenige Wochen bevor ein Berufungsgericht in Kiew Mitte Mai das im ersten Prozess gegen sie gesprochene Urteil kippen könnte. Timoschenkos Anwalt Sergej Wlasenko vermutet deshalb, dass die ukrainische Justiz mit einem neuen Verfahren eine mögliche Freilassung verhindern möchte. Außerdem wird in den kommenden Monaten eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs erwartet. Beobachter schließen nicht aus, dass die Straßburger Richter zu Timoschenkos Gunsten entscheiden.

Wie immer auch der Prozess vor dem Charkiwer Gericht ausgeht, es dürfte nicht der letzte gegen Timoschenko sein. "Möglicherweise soll dieser zweite Prozess die Grundlage für weitere Verfahren schaffen", vermutet der Kiewer Experte Dykan. Die ukrainischen Behörden ermitteln bereits in weiteren Fällen gegen die ehemalige Premierministerin. Experten, darunter auch Gerhard Simon von der Universität zu Köln, rechnen deshalb nicht mit einer schnellen Freilassung der einstigen Galionsfigur der "Orangenen Revolution" in der Ukraine.