1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

25 Jahre Wartezeit

Ayhan Simsek13. April 2012

Die Mehrheit der Türken hat längst das Vertrauen in den EU-Beitrittsprozess verloren. Die Regierung hält an dem Ziel zwar weiter fest, aber nicht mehr bedingungslos.

https://p.dw.com/p/14dYT
Assoziierungsabkommen EWG mit der Türkei
Bild: European Union, 2012

"Seit über einem halben Jahrhundert ist eine EU-Mitgliedschaft unser strategisches Ziel", sagt der türkische EU-Minister und Chefunterhändler Egemen Bagis im Interview mit der Deutschen Welle. "Und wir werden dieses Ziel nicht wegen der unverantwortlichen Politik von einigen kurzsichtigen Politikern in Europa aufgeben." Damit meint Bagis starke Gegner eines Europabeitritts der Türkei - zum Beispiel den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der es immer wieder geschafft hat, türkische Beitrittsgespräche zu blockieren.

Die Türkei ist das Land, das schon am längsten auf der Beitrittsliste der Europäischen Union steht. Schon 1959 wurde die Türkei assoziiertes Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).Vor 25 Jahren, am 14. April 1987, stellte Ankara offiziell den Antrag auf Vollmitgliedschaft.

Seit dem formellen Antrag der Türkei sind 15 andere Länder beigetreten. Die Verhandlungen mit der Türkei begannen jedoch erst im Jahr 2005. Durch immer mehr ungeklärte Fragen ist der Prozess in den letzten Jahren fast zum Erliegen gekommen - aus unfairen, politisch motivierten Gründen, meint Minister Bagis.

Türken kritisieren Doppelmoral der EU

Cengiz Aktar von der Bahcesehir Universität in Istanbul ist ein starker Befürworter des Reformprozesses in der Türkei - und ihrer EU-Mitgliedschaft. Seiner Meinung nach sind beide Seiten schuld an der langen Verzögerung und Stagnation.

Aktar kritisiert vor allem das Auftreten der EU gegenüber der Türkei. "Nie hat die EU die Türkei wie alle anderen Beitrittsländer behandelt. Unterschiedliche Standards haben sich leider zu einem der wichtigsten Merkmale dieses Prozesses entwickelt", glaubt er.

Wie Umfragen zeigen, haben das jahrzehntealte Zypern-Problem und Sarkozys Anti-Haltung dazu geführt, dass die türkische Öffentlichkeit die EU immer mehr als doppelzüngig einschätzt. Nach einer Erhebung des Deutschen Marshall Fund sank die Unterstützung für den Beitritt zur EU auf 38 Prozent im Jahr 2010, während noch im Jahr 2004 fast 73 Prozent der Befragten sagten, eine Mitgliedschaft wäre "eine gute Sache".

Aufschwung und Reformen

Der EU-Beitrittsprozess wird in der Türkei schon lange als wichtiger wirtschaftlicher und politischer Motor angesehen. Zwischen 2000 und 2005 führte er zu demokratischen Reformen in der Türkei.

Der türkische EU-Minister Egemen Bagis (l.) mit EU-Kommissar Stefan Füle
EU-Minister Egemen Bagis (l.) mit EU-Kommissar Stefan FüleBild: European Union, 2012

Immer mehr ausländische Direktinvestitionen erleichterten den wirtschaftlichen Aufschwung. Doch als der türkische EU-Beitrittsprozess im Jahr 2005 in eine entscheidende Phase kam und die Perspektive auf Vollmitgliedschaft zunehmend infrage gestellt wurde, kühlte auch Ankaras Interesse an der EU ab. Heute ist die EU-Mitgliedschaft offenbar nicht mehr die oberste Priorität für die regierende Partei AKP. "Die türkische Regierung setzt ihren Reformprozess nur mehr in selektiver Weise um. Ich beschreibe dies als 'A la carte'-Reformprozess", erklärt Aktar. Die Regierung sei nicht mehr in vollem Umfang zur Annahme von EU-Normen bereit, sondern wähle jene aus, die in Einklang mit ihren innenpolitischen Prioritäten stehen.

Der türkische EU-Minister ist mit dieser Kritik nicht einverstanden: "Trotz der politisch motivierten Hindernisse gegen unsere Beitrittsverhandlungen sind wir bemüht, die EU-Standards zu erfüllen", betont Egemen Bagis. "In welchem anderen ​​europäischen Land können Sie heute ähnlich schnelle Reformpläne und einen vergleichbar starken politischen Willen zur Veränderung feststellen wie derzeit in der Türkei?"

Für die EU-Mitgliedschaft hat die Türkei Angleichungen an die europäischen Standards in 35 wichtigen politischen Bereichen zu erfüllen, die durch die Beitrittsverhandlungen abgedeckt sind. Während die meisten dieser 35 Kapitel wegen der Zypern-Frage und der französischen Opposition blockiert werden, treibt Ankara die Harmonisierung aller Aspekte voran, um bereit zu sein, sollten die beiden Blockadefaktoren schließlich beseitigt werden.

Zum Vorteil aller

Laut Bagis würde Europa von der Mitgliedschaft der Türkei profitieren. Die EU würde den heutigen globalen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen besser begegnen können. "Heute sind wir das am schnellsten wachsende Land Europas", stellt er fest - und unterstreicht damit die strategische Bedeutung der Türkei durch ihre geographische Nähe zu Europas wichtigsten Energie-Exporteuren.

"Darüber hinaus gehörte die Türkei zu den wenigen Ländern, die während des arabischen Frühlings den Menschen in dieser Region Hoffnung vermittelt haben, weil sie für Demokratie und Freiheit stehen", sagt Bagis. "Für uns ist die EU eines der wichtigsten Friedensprojekte der Geschichte, und sein Erfolg hängt von einem Gelingen der Integration und Erweiterung ab". Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei würde auch eine Brücke in den Nahen Osten bauen.

Selbstbewusstsein der Türken und "Euro-Sarkasmus"

Laut dem EU-Experten Cengiz Aktar hat sich die Sicht der politische Elite und der Bürger auf die EU verändert, seit die AKP die Regierung übernommen hat. "Die türkische Regierung hat stark an Selbstbewusstsein gewonnen. Man könnte auch von Selbstüberschätzung sprechen", so Aktar. "Vor zehn Jahren war der EU-Prozess eine Art Hebel für alle Reformen. Aber vor kurzem hat die EU nahezu allen Einfluss in der Türkei eingebüßt. Jetzt ist der entscheidende Faktor die interne Dynamik, sodass das Reformtempo langsam und das Ergebnis sehr begrenzt ist."

Türkische und europäische Flagge. Foto: dpa
Viele Türken haben das Vertrauen in die EU verlorenBild: picture-alliance/dpa

Aktar weist auch darauf hin, dass die türkische Öffentlichkeit die EU nun anders wahrnehme. "Wir erleben derzeit etwas, das ich Euro-Sarkasmus nennen würde", sagt er. "Zunehmend hört man ironische Aussagen wie: 'Europa ist in einer schwierigen Zeit, lasst uns Europa aus der Krise retten' - und leider befeuert die Regierung solche Scherze auch noch mit populistischen Aussagen."

Trotzdem blickt Cengiz Aktar nicht pessimistisch in die Zukunft. "Höhen und Tiefen sind in der Türkei seit Jahrzehnten üblich. Es ist möglich, den Annäherungsprozess an die EU wiederzubeleben ", glaubt er. "Dafür müssen wir uns zuerst die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Frankreich und die Wahlen in Deutschland nächstes Jahr abwarten. Danach sollten sich beide Parteien erneut an einen Tisch setzen, und über die Zukunft des Beitritts zu entscheiden."

Aktar betont jedoch auch, dass der Türkei eine angemessene Frist bis zur möglichen Mitgliedschaft in Aussicht gestellt werden müsse. "Ohne eine konkrete Perspektive ist es inzwischen fast unmöglich, das Vertrauen der Türkei zurückzugewinnen. Für mich ist 2023, der 100. Jahrestag der modernen türkischen Republik, der angemessene Zeitpunkt, um über eine eventuelle Mitgliedschaft der Türkei zu entscheiden."