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Gewalt in Tunesien

Sarah Mersch10. April 2012

Bei Demonstrationen in Tunis kam es zu den heftigsten Übergriffen der Sicherheitskräfte seit Monaten. Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition und Zivilgesellschaft verschärfen sich zunehmend.

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Demonstranten am Morgen des 9.April, Avenue Mohamed V (Innenstadt), Tunis *** Bilder von Sarah Mersch, DW April 2012
Proteste in TunisBild: DW

Die Sonne strahlt über Tunis am Märtyrertag (09.04.2012). Die Bewohner der Hauptstadt wollen der Menschen gedenken, die seit den ersten Aufständen gegen die französische Kolonialmacht am 9. April 1938 für den kleinen Mittelmeerstaat gestorben sind. Und viele wollen auch ihr Unbehagen an der aktuellen Regierung kundtun. Am Vormittag strömen Tausende Bewohner von Tunis Richtung Innenstadt, viele sind in die tunesische Flagge gehüllt.

Auf der Avenue Mohamed V bewegt sich ein Zug von rund zweitausend Demonstranten in Richtung Avenue Bourguiba. Die Hauptstraße von Tunis war Schauplatz der großen Demonstration vom 14. Januar 2011. An diesem Tag verließ der ehemalige Machthaber Zine El Abidine Ben Ali das Land. "Das Volk fordert den Sturz des Systems", skandieren die Menschen nun, wie vor rund einem Jahr. "Es kann doch nicht sein, dass wir erst einen Diktator verjagen und dann ein Jahr später die Leute, die unter ihm im Gefängnis saßen, eine neue Diktatur installieren wollen", empört sich Fatma, eine junge Frau, die ganz in den tunesischen Nationalfarben rot und weiß gekleidet ist.

Kein Durchkommen zu Avenue Bourguiba (Foto: Sarah Mersch, DW)
Kein Durchkommen zur Avenue BourguibaBild: DW

"Es wird noch weitere Märtyrer geben"

Die Menge zieht schnell weiter, doch auf der Höhe des ehemaligen Hauptsitzes der inzwischen aufgelösten Regierungspartei Ben Alis, RCD, ist Schluss. Eine Reihe Polizisten versperrt den Demonstranten den Weg, denn seit zwei Wochen hat das Innenministerium alle Demonstrationen auf der symbolbehafteten Hauptstraße verboten. Viele Teilnehmer des Gedenkmarschs versuchen trotzdem, dorthin vorzudringen. "Es wird die Avenue Bourguiba sein, die auch Ennahda vertreiben wird! Wir sind hier, um unsere Märtyrer zu feiern, die Märtyrer der Unabhängigkeit und des 14. Januar 2011", erklärt Bellaluna Jelila, Vorsitzende der Vereinigung für Finanzielle Transparenz. Sie glaubt, es werde noch weitere Märtyrer geben. "Wir sind bereit, für die Demokratie Opfer zu bringen."

Die Wut vieler Demonstranten richtet sich gegen die islamistische Partei Ennahdha, die größte Partei der Regierungskoalition. Sie würde mit zweierlei Maß messen, nicht alle Bürger hätten die gleichen Rechte. Friedliche Demonstrationen der Opposition und der Gewerkschaft wurden in den vergangenen Wochen mehrfach mit Tränengas aufgelöst, salafistische Gruppierungen konnten jedoch unbehelligt demonstrieren.

Tränengaseinsatz der Polizei (Foto: Sarah Mersch, DW)
Tränengaseinsatz der PolizeiBild: DW

Katz- und Maus-Spiel

Nach wenigen Minuten setzt die Polizei auch am Märtyrertag Tränengas ein, die Menge zerstreut sich, um kurze Zeit später erneut zu versuchen, an der Polizei vorbei auf die gesperrte Hauptstraße zu gelangen. In den Seitenstraßen rund um die Avenue Bourguiba liefern sich Polizei und Demonstranten ein Katz- und Maus-Spiel, die Polizei geht mit außergewöhnlicher Härte gegen Zivilisten vor. Immer wieder fahren Wagen ohne Nummernschilder vor. In Windeseile steigen Männer in Zivil aus, prügeln mit Schlagstöcken scheinbar wahllos auf die Demonstranten ein und verschwinden wieder. Bei diesen Personen handele es sich um Milizen der moderaten Islamisten von Ennahdha, deklariert Hama Hammami, Vorsitzender der Kommunistischen Partei. Ennahdha weist die Vorwürfe umgehend zurück und droht Hammami mit Klage wegen Verleumdung.

Nach Angaben der Regierung bewarfen Demonstranten die Polizei mit Steinen, außerdem sei ein Wagen mit Molotow-Cocktails gestoppt worden, daher habe die Polizei hart durchgegriffen. Am Montagabend kommt es in verschiedenen Städten zu Demonstrationen. Staatspräsident Moncef Marzouki bemüht sich, die Situation zu beruhigen. Die Gewalt habe ein zu großes Ausmaß angenommen, allerdings seien Polizei und Demonstranten gleichermaßen dafür verantwortlich, sagt er im Fernsehen.

Demonstranten nach Tränengaseinsatz (Foto: Sarah Mersch, DW)
Demonstranten nach TränengaseinsatzBild: DW

"Das wahre Gesicht der Regierung"

Mehrere tunesische und ausländische Journalisten wurden bei den Auseinandersetzungen beschimpft und gezielt von der Polizei und Personen in Zivil angegriffen, die verhindern wollten, dass Festnahmen und Angriffe auf Demonstranten dokumentiert werden. Eine Mitarbeiterin des Senders Nessma TV erlitt mehrere Knochenbrüche. Nejiba Hamrouni, Vorsitzende des Tunesischen Journalistenverbands, berichtet von mindestens 14 Übergriffen und verurteilt das Vorgehen der Sicherheitskräfte scharf.

"Die Regierung hat ihr wahres Gesicht gezeigt und Beweise dafür geliefert, dass es sich um eine Diktatur handelt", sagte Abdessatar Ben Moussa, Vorsitzender der Tunesischen Menschenrechtsliga (LTDH), bei einer Pressekonferenz. Abgeordnete des sogenannten Demokratischen Blocks der Verfassungsgebenden Versammlung haben angekündigt, der Regierung die Vertrauensfrage zu stellen. Außerdem sind weitere Demonstrationen geplant, jetzt auch gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte.

Wagen ohne Nummernschild mit Zivilisten mit Schlagstöcken (Foto: Sarah Mersch, DW)
Wagen ohne Nummernschild mit Zivilisten mit SchlagstöckenBild: DW