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Politisches Charisma: Gabe oder Gefahr?

Birgit Görtz16. März 2012

Gauck hat Charisma, zweifellos. Jeder hat eine Vorstellung, was Charisma ist. Und doch fällt die Analyse schwer. Was ist das Wesen des Charisma? Genau das hat die Politologin Tatjana Reiber untersucht.

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Joachim Gauck (Foto: dapd)
Steht für Integrität und Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit: Joachim GauckBild: dapd

Deutsche Welle: Sie haben sich mit dem Zusammenhang von Politik und Charisma auseinandergesetzt, unter anderem mit der Frage: Was steckt hinter politischem Charisma: Gabe, Inszenierung, Gefahr? Nun scheint es so, dass charismatische Persönlichkeiten in der Politik rar geworden sind. Ist das so und wenn ja, warum?

Tatjana Reiber: Charismatiker sind Ausnahmeerscheinungen, das war schon immer so. Denn Charisma ist ja, so schon Max Weber, eine außergewöhnliche Gabe. Insofern würde ich nicht sagen, dass sie besonders rar geworden sind in der Politik. Wir unterscheiden in unserem Buch ja zwischen verschiedenen
Charismatypen. Insbesondere der außeralltägliche Charismatiker ist nicht nur rar, sondern sein Charisma ist auch besonders unbeständig -  er weckt große Hoffnungen, die Menschen setzen hohe Erwartungen in ihn, trauen ihm besonders viel zu und wenn sich im "Realitätstest" diese hohen Erwartungen nicht erfüllen lassen, dann wenden sie sich enttäuscht von ihm ab, siehe Barack Obama.

Ist Joachim Gauck aus Ihrer Sicht eine charismatische Persönlichkeit und was macht sein Charisma aus?

Charisma ist eine Frage der Zuschreibung und es kommt darauf an, dass viele Menschen einer Person diese Eigenschaft zuschreiben. Insofern ist es sogar irrelevant, ob ich persönlich Gauck für charismatisch halte. Um ein Beispiel zu geben: Ich persönlich habe Karl-Theodor zu Guttenberg nicht als charismatisch empfunden, aber ich würde dennoch sagen, dass er Charisma hatte.

Ex-Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (Foto: AP)
Hatte er Charisma? Ex-Verteidigungsminister zu GuttenbergBild: AP
US-Präsident Barack Obama (Foto Reuters)
Weckte übersteigerte Erwartungen: Barack ObamaBild: Reuters
Tatjana Reiber, Politikwissenschaftlerin aus Hamburg, Autorin des Buches "Charisma und Herrschaft". Copyright: Tatjana Reiber 2011
Tatjana Reiber, Politikwissenschaftlerin aus HamburgBild: Tatjana Reiber

Gauck hat schon 2010 viele Menschen begeistert und mitgerissen und hat insofern durchaus eine außergewöhnliche, charismatische Ausstrahlungskraft. Ich denke, das liegt zu einem großen Teil an seiner Biographie und an den normativen Werten, die er ausstrahlt. Er ist der parteilose Kandidat, der in der Bürgerrechtsbewegung aktiv war, für Integrität und Aufrichtigkeit  steht, ein hervorragender Redner ist und damit viele Sehnsüchte befriedigt. Diese Eigenschaften zeichnen ihn besonders im Vergleich zu Wulff aus.

In dem von Ihnen mitveröffentlichten Band "Charisma und Herrschaft" halten Sie fest, dass "Charisma immer Ausdruck einer sozialen Beziehung zwischen charismatischem  Führer und Anhängerschaft ist". Unterstellt, dass die deutsche Bevölkerung sich nach mehr Charisma in der politischen Klasse sehnt, was sagt dies über die "Anhängerschaft" aus?

Ich denke, hier drückt sich eine Sehnsucht nach einem Bundespräsidenten aus, der eine moralische Leitfigur ist, der Orientierung vermittelt, über dem "Parteigeschachere" steht, integer ist, keine Affären hat, dem Werte wichtig sind, der nicht blass und ausdruckslos ist, sondern "was zu sagen hat", im Sinne einer  Botschaft.

Charismatische Menschen: (v.l.) Martin Luther King, Dalai Lama, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi
Ohne Zweifel Menschen mit Charisma: (v.l.) Martin Luther King, Dalai Lama, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Aung San Suu KyiBild: picture-alliance/dpa/AP/DW

Kommen wir zur immanenten Gefahr des Charismas: Sind charismatische Personen nicht besonders gefährdet, in den Augen ihrer Anhänger zu scheitern, da sie mit womöglich überfrachteten Hoffnungen beladen sind?

Ja, das sind sie. Insbesondere dann, wenn sie politische Reformen oder geradezu revolutionäre Umbrüche versprechen. Das ist im Falle Gaucks ja nicht ganz der Fall, die Menschen bewundern seine Persönlichkeit,  aber es sind nicht unbedingt politische Visionen, deren Umsetzung sie sich von ihm erhoffen - was er als Bundespräsident auch gar nicht erfüllen könnte.

Bliesemann de Guevara, Berit; Reiber, Tatjana (Hg.): Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik, Erschienen 2011 im Campus Verlag, 2011