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Kanak Sprak

4. Juli 2011

Die Einwanderung verändert auch die deutsche Sprache. Manche Linguisten erwarten gar eine radikale Vereinfachung der Grammatik - auch in der Schriftsprache.

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Türkische und Deutsche Fans bei einem Fußballspiel in Berlin (Foto: picture-alliance/ULMER/KLaus Cremer)
Jeder fünfte Einwohner Deutschlands hat einen MigrationshintergrundBild: picture-alliance/Pressefoto ULMER/Claus Cremer

Wenn deutsche Komödianten wie das Duo "Mundstuhl" Jugendliche mit Migrationshintergrund nachmachen wollen, dann sprechen sie meist so:

Wie "Mundstuhl" parodieren zahlreiche andere Komödianten Kiezdeutsch (Foto: dpa)
Wie das Duo "Mundstuhl" parodieren zahlreiche andere Komödianten KiezdeutschBild: picture alliance/dpa

Dragan: "Alder, was geht?"

Alder: "Konkret, ich hab neue Job, verstehst Du."

Dragan: "Alder!"

Alder: "Konkret, ich bin korrekt Lehre jetzt, weissu?"

Sprachforscher nennen das, was da parodiert wird, Ethnolekt. Diese Sprechweise dürfe nicht als sprachliches Unvermögen missverstanden werden, erklärt Heike Wiese, Linguistin an der Universität Potsdam: "Ein Ethnolekt ist eine systematische Varietät, die in sich Sinn ergibt und die Strukturen hat, die man erlernen kann." In den ethnisch gemischten Vierteln der Großstädte ist in den vergangenen Jahren das sogenannte Kiezdeutsch entstanden, ein Multi-Ethnolekt, der nicht nur von einer Gruppe, sondern von Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft verwendet wird.

Entwicklungsmotor Mehrsprachigkeit

Statt des deutschen "Na los" taucht hier das arabische "Yalla" auf, statt der kumpelhaften deutschen Anrede "Alter" das türkische "Lan". Die Grammatik folgt eigenen Regeln: Artikel können ebenso wegfallen wie Reflexivpronomen und Präpositionen. Aus dem Satz "Lass' uns jetzt 'mal zur Schule gehen" wird so "Lassma Schule gehn". "Dieser Multi-Ethnolekt entwickelt sich besonders schnell und systematisch, weil es viele mehrsprachige Sprecher gibt", sagt Heike Wiese.

Viele Kinder - hier in einer Kita in Berlin-Kreuzberg - wachsen mehrsprachig auf (Foto: picture-alliance/ZB)
Viele Kinder - hier in einer Kita in Berlin-Kreuzberg - wachsen mehrsprachig aufBild: picture-alliance/ZB

Doch was genau das auch als "Kanak Sprak" bekannte Kiezdeutsch abseits der Stereotype ist, lässt sich nicht genau fassen. Denn die Wissenschaftler haben ein methodisches Problem: Sie können kaum Sprachdaten ermitteln. "Wenn ich einen Jugendlichen interviewe, der eben noch mit seinen Freunden Kiezdeutsch gesprochen hat, verfällt der ins Standarddeutsche - für Kiezdeutsch bin ich zu alt", sagt die Sprachforscherin Wiese.

Manche der Forschungsobjekte übertreiben es auch. "Jugendliche parodieren Parodien und manchmal merken wir Forscher das gar nicht", erklärt der Hamburger Linguist Jannis Androutsopoulos. "Wir glauben dann, die reden in ihrer eigenen Sprache, während die nur etwas wiedergeben."

Wirklich sicher kann also niemand sagen, in welchem Maß Jugendliche statt des klassischen "Verpiss' Dich, Alter, oder ich schlitz' dich auf!" tatsächlich die - von Soziolinguisten gern als Beispiel angeführte - türkisch beeinflusste Formulierung "Siktir Lan, üsch mach düsch Messer!" verwenden.

Strukturen wie im Englischen?

In der Sprachforschung wächst zudem die Unsicherheit, ob es so etwas wie Ethnolekte oder Multi-Ethnolekte überhaupt gibt - denn die Unterschiede in der Sprechweise von Jugendlichen mit ähnlichem Migrationshintergrund sind meist größer als die Gemeinsamkeiten. "Es gibt vielerlei Ethnolektales, aber es gibt keine Ethnolekte", glaubt der Linguist Androutsopoulos inzwischen. Denn es fehle an einer Einheitlichkeit über Milieus und Städte hinweg.

Doch unabhängig davon herrscht Einigkeit, dass überall im Land neue Formen des Deutschen gesprochen werden. Dies habe Auswirkungen, die in ihrer Tragweite noch gar nicht erkannt würden, glaubt Uwe Hinrichs, Sprachwissenschaftler an der Universität Leipzig. "Die Migration verändert die Sprache massiv", sagt Hinrichs. "Am Ende steht vielleicht eine grammatische Struktur wie im Englischen."

Der Sprachwandel in Deutschland sei vergleichbar mit der Situation auf dem Balkan, wo das jahrhundertelange Nebeneinander grundverschiedener Sprachen zu starken Vereinfachungen geführt habe. Dies geschehe überall, wo Sprachen aufeinandertreffen, sagt Hinrichs: "Man versteht sich einfach besser, wenn Sprachstrukturen einfacher werden."

"Mehr groß als das Haus von mein Vater"

Hinrichs sagt voraus, dass in den nächsten Jahrzehnten bestimmte grammatische Formen ganz verschwinden werden. So werde es statt "das Haus meines Vaters" nur noch "das Haus von mein Vater" heißen, aus "er ist geeigneter" werde "er ist mehr geeignet". Unter dem Einfluss der mündlichen Umgangssprache werde sich früher oder später auch die Schriftsprache verändern, sagt Hinrichs und verweist darauf, dass die Grenze zwischen Schrift- und Umgangssprache im Internet schon jetzt häufig fließend ist.

Andere Forscher halten Hinrichs Prognose für maßlos übertrieben. "Ob Kiezdeutsch die Sprache insgesamt verändert, vermag ich nicht zu sagen", sagt etwa Heike Wiese. "Ein einzelner Dialekt kann das selten - auch Hessisch verändert das Deutsche nicht massiv." Ihr Hamburger Kollege Jannis Androutsopoulos sieht das ähnlich: "Die Idee, dass eine Varietät zu einer Simplifizierung von einer Gesamtsprache führt, kann ich einfach nicht nachvollziehen." In der Politik, der Wissenschaft, den Medien und anderen Bereichen werde die Standardsprache Bestand haben. Anders könne dies allerdings in der Alltagssprache in den Innenstädten aussehen, sagt Androutsopoulos: "Wenn sich die Bevölkerungsstruktur eines Landes ändert, wird das auch Auswirkungen auf die Sprache haben."

Autor: Dennis Stute

Redaktion: Hartmut Lüning