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Dschihadisten stürmen Flüchtlingslager

Kersten Knipp2. April 2015

Kämpfer der Terrorgruppe "Islamischer Staat" haben ein palästinensisches Flüchtlingslager in Damaskus erobert. Nun stehen sie kurz vor Assads Machtzentrum. Durch eine neue Taktik bedrängen sie das Regime immer mehr.

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Das Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus, 24.2. 2014 (Foto: Reuters)
Schwers beschädigt: das Flüchtlingslager Yarmouk in DamaskusBild: Reuters

Früh am Morgen drangen die Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) in das palästinensische Flüchtlingslager Yarmouk ein. Erst beschossen sie es mit Raketen, dann stürmten die Dschihadisten los. Im folgenden Gefecht gelang es ihnen, die Selbstverteidigungskräfte zurückzudrängen und sich im Süden und Osten des Lagers festzusetzen. Yarmouk, das zwei Quadratkilometer große Lager in der Nähe des Stadtzentrums von Damaskus, befindet sich nun zu Teilen in den Händen des IS. Der ist damit gefährlich nahe an die Machtzentrale des Assad-Regimes herangerückt: Die Regierungsgebäude befinden sich nur fünf Kilometer von dem Lager entfernt – und damit in Reichweite der vom IS eingesetzten Raketen.

Das Assad-Regime reagierte sofort. "Regierungstruppen beschießen das Lager mit Mörsern", teilte ein Bewohner des Lagers westlichen Medien mit. "Sie haben den Eingang des Krankenhauses getroffen. Einige Zivilisten wurden getötet."

Ein Lager und seine Geschichte

Vor Ausbruch des Krieges lebten in dem 1957 errichteten Lager knapp 160.000 Menschen. Über die Jahre hatte sich das Lager zu einem eigenen Stadtteil entwickelt. So befanden sich auf dem Terrain vier Krankenhäuser sowie zwanzig Grund- und acht weiterführende Schulen.

In den zurückliegenden vier Kriegsjahren haben die Bewohner des Lagers sehr gelitten. Immer wieder nahm die Regierung das Terrain unter Beschuss. Sie fürchtete, dort könnte sich ein besonders hartnäckiger Widerstand entwickeln. Ebenso trieb sie die Sorge, dort könnten Extremisten Fuß fassen.

Bewohner von Yarmouk warten auf Hilfslieferungen, März 2014 (Foto: DW)
Bewohner von Yarmouk warten auf HilfslieferungenBild: UNRWA humanitarian distribution, Yarmouk Camp, Damascus. 2014 (c) UNRWA Archives

Zwar werden Teile des Lagers von der fundamentalistischen Gruppe Aknaf Beit al-Maqdis kontrolliert. Die aber war zu der extremistischen Ideologie der Nusra-Front und des "Islamischen Staats" (IS) immer auf Distanz gegangen und hatte das Lager auch gegen die Angreifer verteidigt. Dennoch stufte das Assad-Regime das Lager als höchst gefährlich ein und nahm es entsprechend unter Beschuss.

Über zwei Jahre lang wurde es immer wieder vom syrischen Militär angegriffen. Immer mehr Bewohner entschlossen sich darum zur Flucht. Derzeit leben noch rund 18.000 Menschen in dem Lager. Zwar konnte das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) im vergangenen März die Arbeit in dem Lager nach dreimonatiger Zwangspause wieder aufnehmen. Doch die Lage für die Flüchtlinge blieb schwierig. "Im fünften Jahr des Krieges wächst der Druck auf die Flüchtlinge noch mehr, so dass sie weiter in einer äußerst schwierigen Situation leben", erklärte UNRWA-Kommissar Pierre Krahenbuhl im März dieses Jahres.

Zahlreiche Bewohner beklagten sich über katastrophale hygienische Zustände und die unzureichende Versorgung des Lagers. Seit Donnerstagmorgen sind sie in dem Lager eingeschlossen, eingekeilt zwischen den Assad-Truppen und den Terroristen des IS.

Neue Taktik des IS

Für den IS ist die Stürmung des Lagers ein symbolischer und mehr noch taktischer Erfolg. Die Gruppe, schreibt die Zeitung "The Telegraph" in einer ersten Analyse, habe auch in Yarmouk ihre neue, weder vom Militär noch konkurrierenden Oppositionsgruppen zu durchbrechende Taktik angewandt: "Sie errichtet einzelne Zellen – die im einzelnen zu unbedeutend sind, als dass es sich lohnen würde, sie zu bekämpfen."

Zwar hat das Assad-Regime durch seine heutigen Angriffe demonstriert, dass es diese spezifische Zelle für höchst gefährlich hält und darum gegen sie angeht. Aber prinzipiell, so der Telegraph, bewähre sich die neue Taktik: Die einzelnen Zellen entwickelten sich, bis es irgendwann sehr schwierig sei, sie zu bekämpfen. Auf diese Weise gewönne der IS dann Schritt für Schritt die Herrschaft über ein neues, kleineres Terrain. "So bildet der IS ein Knotennetz im ganzen Land aus. Und zwar auch dann, wenn sein Kerngebiet durch Soldaten des internationalen Bündnisses, kurdische Truppen oder rivalisierende Gruppen angegriffen wird."

Dies erkläre auch den Erfolg des IS auf syrischem Gebiet: Während er sich im Irak mehr und mehr in einen konventionellen Krieg verwickelt sehe, verfolge der IS in Syrien eher eine Guerilla-Taktik, mit der er sich viel besser halten könne.

Bewohner von Idlib fliehen nach der Einnahme der Stadt durch die Nusra-Front, 28.3. 2015 (Foto: Reuters)
Bewohner von Idlib fliehen nach der Einnahme der Stadt durch die Nusra-FrontBild: Reuters/K. Ashawi

Rücksichtsloser Kampf des Assad-Regimes

Insgesamt wird die Lage für das Assad-Regime immer bedrohlicher. Den Rebellen bereits entrissen geglaubte Gebiete sind wieder zurück an dschihadistische Gruppen gefallen. Zudem haben die Extremisten neue Gebiete erobert. So hat die Al-Qaida verbundene Al-Nusra-Front vor einigen Tagen die zwischen Aleppo und Damaskus gelegene Stadt Idlib und Mitte dieser Woche den syrisch-jordanischen Grenzposten Nasib eingenommen.

Zwar wird der IS weiterhin von den USA bekämpft. So teilte das US-Verteidigungsministerium mit, dass es allein zwischen dem 31. März und 1. April sieben Luftangriffe gegen den IS geflogen und dabei mehrere Einheiten, Kampfstellungen und Fahrzeuge getroffen habe. Aber die Taktik, immer kleinere Einheiten zu bilden, macht die Luftangriffe sowohl schwieriger wie auch kostspieliger.

Der syrische Präsident Baschar al-Assad (Foto: Reuters)
Bedrängt: Baschar al-AssadBild: Reuters

Zugleich dürfte die Gewohnheit gewordene Taktik des Assad-Regimes, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung auf vom IS besetzte Gebiete Fassbomben fallen zu lassen, den Dschihadisten weitere Anhänger in die Arme treiben. Dies sagt wenig über die ideologische Ausrichtung der syrischen Bevölkerung aus. Umso mehr aber über ihren Überlebenswillen.