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Die Wächter der Verfassung

Wolfgang Dick24. November 2013

Die Richter am Bundesverfassungsgericht sind um Neutralität bemüht. Politik machen sie dennoch: Sie setzen auch der Regierung Grenzen. Wird sich das durch die Übermacht einer Großen Koalition ändern?

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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, v.l. Sibylle Kessal-Wulf, Monika Hermanns, Herbert Landau, Michael Gerhardt, Andreas Voßkuhle (Vorsitz), Gertrude Lübbe-Wolff, Peter Huber und Peter Müller - Foto: Uli Deck (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

In diesen Tagen verhandeln die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD über ein gemeinsames Regierungsprogramm. Auf der Wunschliste stehen viele Gesetzesvorhaben, die auch Grundrechte berühren werden. Juristen befürchten größere Rechtsprobleme bei den Plänen der künftigen Großen Koalition zur Datenspeicherung, zur inneren Sicherheit, bei der Sozialgesetzgebung und bei weiteren Maßnahmen zur Euro-Rettung.

Dass eine Regierung in der Bundesrepublik Deutschland nicht einfach machen kann, was sie will, darüber wacht seit über 60 Jahren das Bundesverfassungsgericht nach einer strengen Regel: Jedes Gesetz muss der deutschen Verfassung entsprechen, die Menschenrechte, Freiheit und Demokratie schützt. Wird dagegen verstoßen, kann das Bundesverfassungsgericht diese Gesetze für ungültig erklären und Nachbesserung fordern. Die Politik muss sich an das Urteil des obersten deutschen Gerichts halten.

Aufsehenerregende Urteile

Kritik und Korrekturen der Verfassungsrichter haben bisher alle Regierungen getroffen, egal welche Parteien gerade an der Macht waren. Die Liste der Urteile, die auch international für Aufsehen gesorgt haben, ist lang:

  • Schulen dürfen nicht gezwungen werden, Kruzifixe, also Zeichen christlichen Glaubens, an die Wände zu hängen
  • Gleichgeschlechtliche Paare müssen auch im Steuerrecht dieselben Vorteile erhalten wie alle anderen Eheleute
  • Eine Sitzblockade, also ziviler Widerstand, stellt keine strafbare Nötigung dar
  • Polizeibehörden dürfen nicht ohne strengste Auflagen direkt auf Festplatten von Computern zugreifen
  • Zur Abwehr von Terrorgefahr darf ein entführtes Passagierflugzeug nicht einfach abgeschossen werden
Aktuelles Ausweichquartier des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe - Foto: Uli Deck (dpa)
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: "Gut abgeschirmt gegenüber dem 500 Kilometer entfernten Berlin"Bild: picture-alliance/dpa

Viele dieser Entscheidungen haben ursprünglich beabsichtigte Regierungspolitik zunichtegemacht oder waren im Einzelfall sogar sehr teuer für den Staat. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Der Verdacht liegt nahe, dass die Versuchung für Politiker groß ist, Druck auf die Richter auszuüben, damit Entscheidungen eine bestimmte Richtung nehmen. Immerhin werden die insgesamt 16 Richter je zur Hälfte vom Bundestag und Bundesrat auf Empfehlung von Parteien in das Bundesverfassungsgericht entsendet.

Doch alle von der Deutschen Welle befragten ehemaligen Verfassungsrichter bestätigen im Interview einstimmig, dass die Politik keinen Einfluss auf die Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts nimmt. Udo Steiner war von 1995 bis 2007 Richter am Bundesverfassungsgericht: "Ich kenne keinen einzigen Fall. Die deutsche Politik mischt sich nicht ein." Man sei natürlich in Karlsruhe, dem Standort des Gerichts, schon rein örtlich gut abgeschirmt gegenüber dem 500 Kilometer entfernten Berlin.

Allerdings kommt von dort durchaus immer mal wieder Kritik an den Karlsruher Urteilen. "Wir diskutieren nicht darüber, wie wir darauf reagieren", sagt Wolfgang Hoffmann-Riem, der von 1999 bis 2008 Verfassungsrichter war. Man nehme es zur Kenntnis, es habe aber keinen Einfluss auf Entscheidungen.

Mut des Gerichts hat sich gelohnt

Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe - Foto: Uli Deck (dpa)
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle: Politisch neutral?Bild: picture-alliance/dpa

Hans-Jürgen Papier, Bundesverfassungsrichter von 2002 bis 2010, erinnert an die Anfänge des Gerichts: "In den 1950er Jahren war der Ton sehr viel schärfer, die Angriffe aus der Politik sehr viel aggressiver." Als das Bundesverfassungsgericht auf absoluter Trennung von Staat und Medien bestand und dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer 1961 verbot, einen staatseigenen Rundfunksender zu gründen, soll Adenauer getobt haben. "Das war das Meisterstück des Verfassungsgerichts."

Seitdem sei die unabhängige Stellung des Gerichts unbestritten, sagt Christian Rath, der seit Jahren das Bundesverfassungsgericht für viele Medien beobachtet. Tatsächlich ist das Ansehen des Gerichts bei Politikern und Bürgern gewachsen. Eine Umfrage des Instituts "Infratest dimap" aus dem Jahr 2012 zeigt, dass 78 Prozent der Deutschen großes Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht haben. Das mag auch daran liegen, dass alle Richter erstklassige juristische Karrieren hinter sich gebracht haben und oft angesehene Professoren mit hohen Kompetenzen sind.

Christian Rath, der seine Erfahrungen im Buch "Der Schiedsrichterstaat" zusammenfasst, meint dennoch: "Das Bundesverfassungsgericht ist ein sehr politisches Gericht aufgrund seiner Entscheidungsspielräume." Keiner der ehemaligen Richter bestreitet das. Der derzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, äußerte sich sogar öffentlich kritisch zu Regierungsvorhaben und verließ nach Meinung von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich damit seine politische Neutralität. Den manchmal sehr mutigen Richtern kann aber nichts passieren. Sie haben eine zwölfjährige Amtszeit garantiert und können ohnehin nicht wiedergewählt werden. "Sie müssen also keine Rücksicht nehmen und parteifreundliche Urteile sprechen", so der Journalist Christian Rath.

Weitere "Nachhilfestunden" befürchtet

Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen über 6000 Entscheidungen jährlich zu treffen. Beklagt wird eine zunehmende Belastung. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo Steiner nimmt die Politiker aber in Schutz. "Gesetzgebung ist heute komplex und hektisch." Aufgrund gestiegener Erwartungen an die Politiker habe von ihnen niemand mehr die Zeit, die sich das Verfassungsgericht aber nehmen könne. Eine Art Missbrauch des Gerichts als ewiger Schiedsrichter für heikle Fälle sieht der langjährige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier: "Entscheidungen werden dem Bundesverfassungsgericht zugeschoben, weil die Politik nicht willens oder politisch nicht in der Lage ist, rechtzeitig selbst zu entscheiden", so Papier im DW-Interview.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVG) in Karlsruhe, v.l. Hans-Jürgen Papier (Vorsitz) und Udo Steiner, eröffnet am Mittwoch (02.05.2007) in Karlsruhe die mündliche Verhandlung über eine Gebührenklage von ARD, ZDF und Deutschlandfunk. Die öffentlich rechtlichen Sender klagen gegen die jüngste Festsetzung der Rundfunkgebühren durch die Länder, die deutlich unter der Empfehlung der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) lag. Mit dem derzeit geltenden Staatsvertrag beschlossen die Länder, die Rundfunkgebühr zum 01. April 2005 um 88 Cent auf 17,03 Euro im Monat zu erhöhen. Sie blieben damit unter der Empfehlung KEF, die eine Erhöhung zum 01. Januar 2005 um 1,09 Euro auf 17,24 Euro vorgeschlagen hatte. Foto: Uli Deck dpa/lsw +++(c) dpa - Bildfunk+++
Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier und Udo Steiner (2007): Schiedsrichter für heikle FälleBild: picture-alliance/dpa

Oft würden Regierungsparteien sogar ganz offen faule Kompromisse eingehen, um den Koalitionsfrieden zu wahren, immer in der Hoffnung darauf, dass das Bundesverfassungsgericht schließlich eingreifen möge. Den Grund für immer mehr Korrekturen der Politik durch das Bundesverfassungsgericht sieht Richterkollege Wolfgang Hoffmann-Riem denn auch weniger im schlechten juristischen Handwerk unter den Politikern. "Sie testen einfach manchmal aus, wie weit sie gehen können und wo die Grenzen sind."

Hoffmann-Riem ist sich sicher, dass gerade die mächtige Große Koalition dem Bundesverfassungsgericht viel Arbeit machen wird. Die Partei "Die Linke", die jetzt größte Fraktion der kleinsten Bundestagsopposition aller Zeiten ist, hat schon Verfassungsbeschwerde angedroht, wenn sie nicht mehr Minderheitsrechte im Parlament erhält.