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Die Vergessenen

Andrew Purcell / rbr30. Dezember 2012

Bejubelt in der Ferne, vergessen zu Hause: US-amerikanische Kriegsheimkehrer, die ihrem Land in Afghanistan oder im Irak gedient haben, erfahren nach ihrer Rückkehr wenig Unterstützung und sogar Ablehnung.

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US-Soldaten patroullieren in Afghanistan (Foto: NN)
Bild: N/A

Seitdem Gefreiter Martin Nieves die US-Armee im Januar 2011 verlassen hat, ist er obdachlos. Eine Zeit lang lebte er in Washington, dann in Texas, Pennsylvania und New York - dort übernachtete er bei Familie und Freunden, solange sie ihn duldeten. Als ihm irgendwann die Optionen ausgingen, musste er auf andere Unterkünfte ausweichen. Heute lebt er in dem speziell für Veteranen gegründeten Heim "Border Avenue Veterans Residence" im Stadtteil Queens in New York. "Es ist eng hier, aber ich komme damit klar", sagt er.

Der letzten Zählung des Kriegsveteranenministeriums im Januar 2011 zufolge waren 67.495 Veteranen in den Vereinigten Staaten obdachlos. Immerhin zwölf Prozent weniger als 2010, was darauf hindeuten mag, dass die Bemühungen zur Bewältigung des Problems Wirkung zeigen: Kriegsveteranenminister Eric Shinseki hatte in den vergangenen Jahren die Mittel für Obdachlosen-Programme stetig aufgestockt. Unterstützer der Veteranen loben seine Bemühungen - fordern aber zugleich noch mehr Initiative. 

Diagnose PTSD

Im Irak war Nieves Leibwächter eines Offiziers im Camp Taji, im nördlichen Bagdad. "Wir wurden beschossen. Dreimal wurden Granaten auf uns abgefeuert. Gott sei Dank ist keiner dabei gestorben", erinnert sich Nieves. Er könne aber heute keine Arbeit lange ausüben - wegen seines Nackens, seines Rückens, seiner Knie, seiner Gelenke. "Ich wurde bei dem Angriff gegen den Stryker (Anm. d. Red.: einen Radpanzer) geschleudert. Mein bester Freund, der direkt neben mir stand, verlor durch einen Granatsplitter sein Auge."

USA Afghanistan-Kriegsveteran Martin Nieves in New York
Kriegsveteran Martin Nieves ist seit 2011 arbeitslosBild: Andrew Purcell/MIM

Posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen (engl. Abkürzung: PTSD), so lautete die Diagnose bei der ersten psychologischen Untersuchung nach seiner Rückkehr. Als er im Juli 2011 einen Behandlungstermin vereinbaren wollte, wurde er nach Hause geschickt. Erst im Dezember solle er wieder kommen. Aufgrund seiner Problematik war Nieves unehrenhaft aus dem Dienst entlassen worden: "Damals fing ich an, absichtlich zu spät zur Arbeit zu kommen, damit ich vorzeitig entlassen werde." Deshalb erhält der Veteran nun nur teilweise staatliche Untersützung.

"Ich bin immer wach", sagt Nieves. "Im Irak standen wir fast jede Nacht unter Artilleriebeschuss. Deswegen kann ich heute nachts nicht mehr schlafen. Anfangs hat mir das Spaß gemacht. Ich ging viel aus, habe Zeit mit meinen Nichten und Neffen verbracht. Aber das hat sich geändert: Jetzt bleibe ich lieber alleine für mich. Ich habe viele Probleme, und diese möchte ich nicht an anderen auslassen."

Realitätsflucht

Nieves hat acht Schwestern und einen Bruder. Eine feste Beziehung hatte er bislang nicht, vielmehr viele und kurze Bekanntschaften. Shad Meshad kennt diese Geschichte nur zu gut - die Geschichte eines jungen Mannes, dessen Alltag von seinen Kriegserlebnissen geprägt ist, der sich von jenen Menschen entfremdet, die er am meisten braucht. Meshad ist ebenfalls Veteran, er kämpfte damals im Vietnam-Krieg, nach seiner Rückkehr gründete er die Nationale Veteranen-Stiftung ("National Veterans Foundation").

US-Soldaten patroullieren in Kabul (Foto: dpa)
US-Soldaten patroullieren in KabulBild: picture-alliance/dpa

"Du kannst dich nicht mehr an die engsten Freunde wenden, du hast keine Arbeit und kein Geld. Du ziehst dich einfach zurück, gehst aus dem Haus. Du steigst in dein Auto, falls du ein solches überhaupt hast, oder du steigst in einen Bus und fährst los, versinkst in Gedanken", berichtet Meshad. Er vergleicht diese Situation mit der eines Kindes, das sich mit den Eltern gestritten hat und weglaufen möchte. Das Kind begreife aber schnell, dass es keinen anderen Ort gibt, wohin es flüchten kann, meint Meshad. "Der Unterschied zwischen einem Kind und einem Veteranen ist, dass Letzterer gelernt hat, zu überleben. Wenn er im Irak oder in Afghanistan war, ist das hier für ihn wie ein Kinderspiel. Ich finde immer einen Unterschlupf."

"Im Auto schlafen ist Luxus"

Die Herausforderungen, die das Kriegsveteranenministerium zu meistern versucht, sind immens. Allein im Jahr 2011 haben Veteranen insgesamt 1,3 Millionen Leistungsansprüche beantragt. "Dieses System ist schon überlastet", sagte Verteidigungsminister Leon Panetta kürzlich bei einer Kongress-Anhörung.

Ryan Charles brauchte ein Jahr, um überhaupt das Kriegsveteranenministerium um Hilfe zu bitten. Nach Aufenthalten im Irak und Afghanistan bat er um frühzeitige Entlassung. "Meine Vorgesetzten in der Armee prophezeiten, aus mir werde nichts, sollte ich die Armee verlassen. 'Wir sind in einer Rezession, was wirst du machen?' fragten sie mich", erinnert sich Charles.

Soldat Ryan Charles in Afghanistan (Foto: NN)
Soldat Ryan Charles in der Nähe des US-Stützpunktes "Tillmann" im IrakBild: N/A

Ryan Charles ist heute arbeitslos. Seit seiner Entlassung sucht er unermüdlich eine Stelle. Sicherheitsfirmen sagen ihm, er brauche ein entsprechendes Zeugnis. Gaststätten und Geschäfte rufen ihn nicht zurück, auch wenn er eloquent redet und gut aussieht. Sein Lebenslauf gibt nicht viel her - High School, dann Irak, dann Afghanistan und aktuell arbeitslos. "Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ein leeres Blatt Papier mit mir herumtrage", sagt er. Vergangenes Jahr lag die Arbeitslosenquote unter Veteranen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren bei 29,1 Prozent.

Einen Teil der Klamotten bewahrt Charles in der Wohnung seiner Mutter im New Yorker Viertel Brooklyn auf. Manchmal duscht er dort, aber er schläft in seinem Auto - auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber der Wohnung. "Ich habe an der Front in verlassenen Gebäuden übernachtet, im Auto schlafen ist jetzt Luxus für mich", sagt Charles.

Bei der ersten psychologischen Untersuchung sagte ihm der Arzt, er habe möglicherweise posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen. Außerdem trinke er zu viel. Seitdem er gesehen hat, wie ein afghanischer Soldat, der nur wenige Meter vor ihm lief, bei einer Minenexplosion beide Beine verlor, leidet Charles an Schwindelanfällen und Gedächtnisschwund. Er versucht jetzt herauszufinden, wie der Staat ihn unterstützen kann: Durchschnittlich dauert es acht Monate, bis die Ansprüche von Veteranen geklärt sind.

US-Kriegsveteran Djata Samod vor seinem Jeep. Der ehemalige Soldat reist seit 23 Jahren durch die ganze Welt. (Foto: NN)
US-Kriegsveteran Djata Samod reist seit 23 Jahren mit seinem Jeep durch die ganze WeltBild: Andrew Purcell/MIM

Das Problem anpacken - aber wie?

Eric Shinseki, der Zuständige für die Angelegenheiten der Veteranen, hat sich zum Ziel gemacht, die Obdachlosigkeit unter den Veteranen bis 2015 zu beenden. Die Zahlen geben jedoch seinen Skeptikern Recht: Veteranen sind im Vergleich zu Zivilisten doppelt so stark gefährdet, in die Langzeitarbeitslosigkeit zu rutschen. Etwa 150.000 Veteranen haben im vergangenen Jahr mindestens eine Nacht in Notunterkünften verbracht.

Veterans Affairs Secretary designate Ret. Army Gen. Eric K. Shinseki listens as President-elect Barack Obama, not pictured, speaks during a news conference in Chicago, Sunday, Dec. 7, 2008. (AP Photo/Charles Dharapak)
Kriegsveteranenminister Eric Shinseki will Obdachlosigkeit bis 2015 beendenBild: AP

"Das ist eine Situation, über die keiner reden will, weil sie beschämend ist", sagt Meshad. "Eigentlich sollten wir entsetzt sein, dass wir so was in unserem Land zulassen."