1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Fotos von My Lai

Michael Marek10. August 2012

Kaum ein Ereignis hat die Öffentlichkeit während des Vietnamkrieges so bewegt wie das Massaker von My Lai. Dass Bilder dieses Verbrechens überliefert sind, ist dem US-Fotografen Ronald L. Haeberle zu verdanken.

https://p.dw.com/p/15iOq
Überreste eine Hauses in My Lai am 8. Januar 1970 (Foto: AP)
Bild: Anonymous/AP/dapd

16. März 1968: Die Sonne geht auf über dem südchinesischen Meer, als Hubschrauber der US-Armee die kleine Ortschaft My Lai erreichen. Soldaten der "Charlie Company" umzingeln das Dorf 540 Kilometer nordöstlich von Saigon. Ihr Auftrag: Aufspüren und Vernichten von Angehörigen des Vietcong, der Armee der südvietnamesischen Kommunisten. Vier Stunden später sind 504 Dorfbewohner tot.

"Als wir in My Lai landeten, hieß es: Wir werden vom Vietcong beschossen. Aber das war gelogen. Was unsere Leute dort gemacht haben, war kaltblütiger Mord", erzählt Ronald Haeberle. Der damals 27-Jährige US-Amerikaner war als Armeefotograf vor Ort. Das Massaker von My Lai ist vor allem wegen seiner Bilder in Erinnerung geblieben: brennende Hütten, Menschen mit aufgeschlitzten Leibern, entstellte Leichen, die zwischen Reisfeldern liegen.

Getötete Frauen und Kinder in My Lai nach dem Massaker im März 1968 (Foto: Ronald L. Haeberle)
Ermordete Frauen und Kinder in My LaiBild: AP

"Unsere Leute feuerten auf alles, was sich bewegte"

Heute lebt der 70-jährige Haeberle als Rentner 30 Kilometer südwestlich von Cleveland, Ohio. Im 19. Jahrhundert hatten sich seine deutschen Ur-Großeltern in der Region niedergelassen. Haeberles Wohnort, North Ridgeville, ist ein schmuckloser Vorort der einstigen Stahlmetropole: weiß gestrichene Einfamilienhäuser, Doppelgaragen, gepflegte Vorgärten, US-amerikanischer Mittelstand. An das Grauen von 1968 kann Haeberle sich aber auch inmitten dieser Idylle immer noch gut erinnern: "Unsere Leute feuerten auf alles, was sich bewegte. Einer alten Frau wurde aus kürzester Entfernung in den Kopf geschossen. Ihr Gehirn spritzte überall hin."

Dass er damals auf die Auslöser seiner beiden Kameras drücken konnte, verwundert ihn bis heute: "Ich war total schockiert, stand irgendwie neben mir, so als wäre ich ganz weit weg. Wissen Sie, es war Krieg. Während des Mordens haben die Soldaten sogar Mittagspause gemacht. Ich habe auch das fotografiert, ich wollte diesen Wahnsinn dokumentieren."

Roland L. Haeberles Kamera (Foto: Duc Tran Van)
Die Augenzeugen-KameraBild: Duc Tran Van

"Ich fragte die Soldaten, warum sie das machen"

Mit einer Schwarzweiß- und einer Farbkamera hält der junge Armeefotograf fest, wie GIs unschuldige Frauen, Kinder und Männer ermorden, Tiere abschlachten, Brunnen vergiften, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand stecken. "Sogar Babys wurden massakriert. Ich fragte die Soldaten, warum sie das machen, warum sie Kindern und Säuglingen in den Kopf schießen. Ich bekam keine Antwort, sie gingen weiter und feuerten mit ihren Sturmgewehren um sich."

Zurück im Basiscamp der US-Armee musste Haeberle seine Schwarz-Weiß-Kamera abgeben. Seine Farbkamera aber versteckte er: "Meine Vorgesetzten haben nicht nach der Kamera gefragt. Wir waren ja als Armeefotografen damit beauftragt, Aufnahmen von den Einsätzen zu machen. Viele Soldaten hatten in Vietnam selber eine Kamera dabei."

"Ich wollte wissen, wie die Leute darauf reagieren"

Von den Kriegsverbrechen erzählt Haeberle zunächst niemanden. Man hätte ihn in der Armee als Nestbeschmutzer beschimpft. Im April 1968, noch vor der Veröffentlichung seiner Fotos, wird er "ehrenhaft" aus der US-Armee entlassen. Danach beendet er sein Studium und arbeitet zeitweise als Fotograf in Cleveland.

In seiner Heimatstadt stellt er eine Diashow zusammen, die er auf öffentlichen Veranstaltungen zeigt. In der Mitte dieser Diaserie mit Aufnahmen aus seiner Dienstzeit platziert er die Bilder des Massakers von My Lai: "Ich wollte wissen, wie die Leute darauf reagieren. Es herrschte meist ungläubiges Staunen im Publikum, die Leute konnten sich nicht vorstellen, dass US-Soldaten solche Verbrechen begangen haben. Eine Frau meinte, ich hätte mir eine Seifenoper für Hollywood ausgedacht."

Duc Tran Van und Ha Tran Thi liegen 1968 auf einem Feldweg (Foto: Ronald L. Haeberle)
Duc Tran Van schützt seine kleine SchwesterBild: Ronald Haeberle

"Meine Bilder waren der Beweis"

Den US-Militärbehörden gelingt es nämlich zunächst, die Ermordung der Dorfbewohner zu vertuschen. Keine Redaktion will Haeberles Fotos veröffentlichen. Bis der damals noch unbekannte Journalist Seymour Hersh zu recherchieren beginnt und die Hintergründe des Kriegsverbrechens aufdeckt. Mit der Veröffentlichung der Fotos von Haeberle im November 1969 wird die Öffentlichkeit dann auf das Massaker aufmerksam.

Die Aufnahmen erscheinen in verschiedenen US-Medien, zuerst im Cleveland "Plain Dealer" und dann im "Life Magazine". Dafür erhält Haeberle im selben Jahr den "Dead Line Award" der New Yorker Journalistenvereinigung. Geehrt fühle er sich dadurch bis heute nicht, sagt er. "Und es macht mich auch nicht stolz, über das Massaker berichtet zu haben. Aber mit meinen Bildern konnte das Kriegsverbrechen wenigstens bewiesen werden."

2011: Rückkehr nach My Lai

Zweimal kehrt Ronald Haeberle nach Vietnam als Tourist zurück, zuletzt 2011, da ist er auch in My Lai. Es sei eine innere Verpflichtung für ihn gewesen, sagt er, eine Ehrerbietung an die Opfer. Der Fotograf ist ein rationaler Mensch, es regen sich keine Gefühlsausbrüche, wenn er über das Morden von damals spricht. Bis heute hat er keine Albträume. Nur im vergangenen Jahr sei er den Tränen nahe gewesen, sagt er, als er einen Überlebenden von My Lai traf: "Ich hatte 1968 eine sterbende Mutter fotografiert, die ihr Baby und ihren kleinen Sohn zu schützen versuchte. Die Kinder haben das Massaker überlebt."

US-Fotograf Roland L. Haeberle mit einem Überlebenden des Massakers von My Lai (Foto: Vien Tran Van)
Roland Haeberle und Duc Tran VanBild: Vien Tran Van

Duc Tran Van, der sechsjährige Junge von damals, lebt mittlerweile in Deutschland und ist mit dem Fotografen befreundet. "Ich habe Duc die Kamera gezeigt", berichtet Haeberle sichtlich bewegt, "mit der ich die Bilder von ihm und seiner sterbenden Mutter aufgenommen habe. Die Kamera und die Bilder sind ein starkes Band zwischen uns!" Heute befindet sich diese Kamera zu Hause bei Duc Tran Van in Remscheid. Sie steht auf einem kleinen Altar vor dem Bild seiner ermordeten Mutter. Haeberle hat sie ihm geschenkt.