1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Triste Trabantenstädte

Sabine Oelze22. Januar 2013

Seit den Krawallen von 2005 stehen die Hochhaussiedlungen an den Stadträndern von Paris im Rampenlicht der Aufmerksamkeit. Ein deutsch-französisches Forschungsprojekt studiert dort das Alltagsleben.

https://p.dw.com/p/16vbh
A firemen tries to put out a burning car, 05 November 2005 in the Cite de l'Europe neighborhood in Aulnay-sous-Bois, a northern surburb of Paris, on the tenth straight night of unrest following the death by electrocution of two boys, last 27 October, who believed they were chased by police. AFP PHOTO STEPHANE DE SAKUTIN (Photo credit should read STEPHANE DE SAKUTIN/AFP/Getty Images)
Frankreich Paris Gewalt in den Vorstädten Aulnay-sous-Bois 2005Bild: STEPHANE DE SAKUTIN/AFP/Getty Images

Die wenigsten Touristen finden den Weg nach Belleville. Obwohl der Stadtteil zu Paris gehört: Sehenswürdigkeiten gibt es dort nicht.  Wie ein Bollwerk erheben sich die Wohntürme der Place des Fêtes am Rand von Belleville. In den Sozialwohnungen im Plattenbaustil wohnen diejenigen, die sich normale Pariser Mieten nicht leisten können, darunter viele Migrantenfamilien. Dieser Teil von Belleville ist ein benachteiligtes Wohnviertel. "In Paris gilt ein Viertel als benachteiligt, wenn dort die Armuts- und die Arbeitslosenquoten besonders hoch sind", sagt die Soziologin Ariane Jossin.  Dennoch seien auch hier in den letzten Jahren wegen steigender Innenstadtmieten betuchtere Bewohner eingezogen.

Drei Jahre lang wird Jossin Interviews in Stadtvierteln von Paris, Berlin sowie in London führen, in denen sich Armut und Arbeitslosigkeit konzentrieren. Ihr Forschungsprojekt ist Teil der deutsch-französischen Initiative "Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung", an dem sich ein ganzer Verbund von Forschungseinrichtungen in Deutschland und Frankreich beteiligt, darunter das Centre Marc Bloch in Berlin und das Centre d'Etudes interdisciplinaire d'Allemagne (CIERA) in Paris.

Hochhaus in der Pariser Vorstadt Bild: DW/Sabine Oelze Stadt in der Krise Seit den Krawallen von 2005 stehen die Hochhaussiedlungen an den Stadträndern von Paris im Rampenlicht der Aufmerksamkeit. Ein deutsch-französisches Forschungsprojekt studiert den Alltag in einer schwierigen Umgebung. Drei Jahre lang wird Jossin Interviews in Stadtvierteln von Paris, Berlin sowie in London führen, in denen sich Armut und Arbeitslosigkeit konzentrieren. Ihr Forschungsprojekt ist Teil der deutsch-französischen Initiative „Saisir l’Europe – Europa als Herausforderung“, an dem sich ein ganzer Verbund von Forschungseinrichtungen in Deutschland und Frankreich beteiligt, darunter das Centre Marc Bloch in Berlin und das Centre d’Etudes interdisciplinaire d’Allemagne (CIERA) in Paris.
Die Sozialwohnungen der Banlieus genießen keinen guten Ruf mehrBild: DW/S. Oelze

Soziale und ökonomische Benachteiligung

Ariane Jossin will herausbekommen, wie die Bewohner in benachteiligten Stadtteilen leben: Welche Relevanz hat für sie der soziale Zusammenhalt? Welche Orte suchen die Menschen auf? Und die entscheidende Frage lautet: Wann schlägt Frust in Gewalt um? Einmal im Monat trifft sie sich zum Austausch mit ihrer Kollegin Teresa Koloma Beck, die am Berliner Centre Marc Bloch die internationale Dimension von Gewalteskalationen erforscht. Die beiden wollen ihre Forschungen vergleichen und Ähnlichkeiten und Unterschiede ihrer Ergebnisse herausarbeiten. Denn globale Konflikte, die zu Gewalt führen, können sich auf lokaler Ebene widerspiegeln.

Seit es im Jahr 2005 in den Pariser Trabantenstädten zu gewaltsamen Konflikten kam und Autos und Geschäfte brannten, kennt die ganze Welt diese krisengeschüttelten Vorstadt-Gettos. Für Ariane Jossin gibt es so etwas wie Gewaltbereitschaft in diesen Milieus nicht. "Es gibt keine Gewalt ohne Grund", meint sie. Das Bild von Migranten in den Vorstädten wird in den Medien viel zu sehr von brennenden Autos und randalierenden Jugendlichen geprägt. Dabei finden Erfolge der Integration zu wenig Beachtung. Untersuchen wird Jossin deshalb auch, ob und warum in den Bezirken innerhalb von Paris ein schnellerer Anschluss an die Gesellschaft - in doppeltem Sinne - als in den benachteiligten Hochhaussiedlungen außerhalb möglich ist. Neben leichteren Zugangsmöglichkeiten zu Bildung, sei schon allein eine schlechte Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel ein Grund dafür, dass sich die Bewohner der Trabantenstädten isoliert fühlten.

Schlagzeilen zu den Protesten in Paris Photo:GABRIEL BOUYS/AFP/Getty Images)
Ein Aufschrei ging durch die Medien, als 2005 die Banlieues branntenBild: Getty Images

Vergleiche zwischen Deutschland und Frankreich

Einen Hintergrund für ihr Forschungsziel hat Ariane Jossin bereits erarbeitet. 140 Interviews führte sie zusammen mit deutschen und französischen Kollegen zwischen 2008 und 2011 im Auftrag der Agence nationale de la recherche (ANR) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Paris und Berlin. Untersucht wurde, welche Chancen junge Migranten im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt haben. Das Bemerkenswerte an diesem Forschungsprojekt, das die Grundlage für ihre Forschungen zu urbanen Gewalträumen bildet, ist der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich. Benachteiligung, so ein Ergebnis dieser Untersuchung, setzt in Deutschland viel früher ein als in Frankreich.

Abgebranntes Haus in der Pariser Vorstadt Foto: AFP SAKUTIN/AFP/Getty Images
Bei den Unruhen wurden Häuser zu RuinenBild: Getty Images

Während die Franzosen bis zum Abschluss des Collège, also bis zum Alter von 15 Jahren, denselben Schultypus besuchen, werden in Deutschland die Weichen für die Zukunft schon nach der vierten Klasse gestellt. „Nach der Grundschule gibt es eine Auslese, von der viele Migrantenkinder nichts mitbekommen. Proteste gibt es deshalb meistens nicht“, sagt Jossin. „In Frankreich findet die Auslese dagegen am Ende des Collège statt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Migrantennachkommen bereits so alt, dass sie sehr wohl wahrnehmen, dass sie nicht die gleichen Chancen haben wie Jugendliche französischer Herkunft.“ Geradezu reflexartig weist man ihnen einen Ausbildungsplatz zu, statt ihnen zu einer Weiterqualifizierung durch Abitur und Studium zu raten. Eine bittere Erkenntnis mit tiefgreifenden Folgen: Viele Migrantennachkommen gaben in den Interviews an, danach - aus Ärger über die ungleiche Behandlung - Autoritäten negativ gegenüberzustehen.

Aussicht auf Zukunft

Was die Eingliederung in den Arbeitsmarkt angeht, bietet Deutschland indes bessere Chancen, auch für Schulabbrecher. Bildungsabschlüsse lassen sich dort leichter nachholen. In Frankreich gilt das republikanische Gleichheitsprinzip - Herkunftsunterschiede werden negiert. Spezielle Förderprogramme für Jugendliche mit Migrationshintergrund gibt es daher nicht. Erst der neue Staatspräsident François Hollande scheint sich der Brisanz dieses Themas bewusst. Das von Hollande ins Leben gerufene Zukunftsprogramm „Emplois d'Avenir“ will jungen Erwachsenen künftig auch ohne Abschluss bei der Suche nach einer Arbeitsstelle helfen und sie auch finanziell unterstützen. „Das wäre eine gute Lösung und würde einige wieder an die Gesellschaft anbinden“, sagt Jossin.

Plakat der Initative "Les Emplois d'Avenir" Bild: DW/Sabine Oelze
Contrat d'Avenir - eine neue Initative gegen JugendarbeitslosigkeitBild: DW/S. Oelze

Denn in Frankreich hatten es Jugendliche unter 26 Jahren lange Zeit schwer, einen Anspruch auf Sozialleistungen, wie er in Deutschland besteht, geltend zu machen. "Außerdem spielt die ethnische Gemeinschaft eine große Rolle“, sagt Jossin mit Blick auf Deutschland. Im Falle des schulischen Scheiterns würden häufig Familie und Freunde einspringen, so dass die deutschen Migrantennachkommen nicht so schnell in prekäre Verhältnisse abrutschten wie Franzosen, die die Schule abbrechen.