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Rückgrat Deutschlands in Gefahr

Martin Koch14. Dezember 2012

Die Mittelschicht einer Gesellschaft ist so etwas wie das Rückgrat des Staates. In Deutschland droht einer Studie zufolge genau dieser Rückhalt zu schwinden. Die Folgen sollte der Staat gut im Blick behalten.

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Ein junges Ehepaar mit Kind sitzt in einem Cafe und schaut auf die Speisekarte (Foto: Fotolia) Themenbild schrumpfende Mittelschicht in Deutschland . Glückliche Familie beim Einkaufen
Bild: Fotolia/Tatyana Gladskih

In Deutschland gehören 58 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht. 1997 waren es noch 65 Prozent. Zu diesem Ergebnis kam eine aktuelle Studie der Universität Bremen und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Eine Schwierigkeit bei der Untersuchung war die Vielschichtigkeit dieser gesellschaftlichen Gruppe: Architekten, Computer-Experten und Verwaltungsangestellte können zur Mittelschicht gehören, ebenso Künstler, Ärzte und Lehrer - eine eindeutige Definition des Begriffes gibt es nicht.

Ein Orientierungspunkt ist das mittlere Einkommen, auch Median-Einkommen genannt. Es teilt die Bevölkerung in zwei gleich große Gruppen mit höherem bzw. niedrigerem Einkommen. Zur Mittelschicht zählte die aktuelle Studie alle diejenigen, die zwischen 70 und 150 Prozent des Median-Einkommens haben. Bei einer vierköpfigen Familie wären das zwischen 2.400 und 5.000 Euro.

Vater, Mutter und zwei Kinder beim Shoppen in einer Einkaufspassage (Foto: Fotolia)
Eine 4-köpfige Mittelschichtsfamilie hat pro Monat zwischen 2.400 und 5.000 Euro zur VerfügungBild: Fotolia/Deklofenak

Aufstieg in die Mittelschicht fast unmöglich

Als weitere Abgrenzungskriterien berücksichtigte die Studie Bildung und Beruf, sagt Olaf Groh-Samberg, Professor für Soziologie an der Universität Bremen und einer der Autoren der Untersuchung. Sein Fazit fällt denkbar knapp und ernüchternd aus: "Die Einkommensverteilung in Deutschland polarisiert sich und es gibt immer weniger Aufstiegsmöglichkeiten aus den unteren Schichten in die Mittelschicht hinein." Dieses Phänomen bezeichnet Groh-Samberg als "dramatisch", weil es sich negativ auf das gesellschaftliche Zusammenleben auswirken und soziale Interessengegensätze verstärken kann: "Solidarität schwindet, wenn sich die oberen Teile der Mittelschicht nach ganz oben orientieren, die unteren Teile der Mittelschicht Angst haben müssen, dass sie, wenn sie mal absteigen, nicht mehr in die Mittelschicht aufsteigen können und die, die unten sind, auch nicht in die Mittelschicht hinaufkommen können", so der Wissenschaftler im Gespräch mit der DW.

Soziologie-Professor Stefan Hradil von der Universität Mainz sieht die Entwicklung ähnlich, warnt aber vor zu großer Dramatik. Denn es sei ja längst nicht so, dass Mitglieder der Mittelschicht nur nach unten aus dieser Gruppe herausfallen: "Viele sind aufgestiegen. Teile der Mittelschicht haben exzellente Chancen, um über die Mittelschicht zu kommen. Also wenn die Mittelschicht geschrumpft ist, dann ist das nicht nur eine Hiobsbotschaft, das ist zum Teil auch eine Freudenbotschaft", sagt er im DW-Interview.

Portrait von Stefan Hradil, Soziologe an der Universität Mainz (Foto:picture-alliance/dpa)
Eine sichere Mittelschicht hält einen Staat stabil: Prof. Stefan Hradil, Uni MainzBild: picture-alliance/dpa

Mittelschicht sorgt für Stabilität

Schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste, dass sich eine große und gut aufgestellte Mittelschicht positiv auf das gesellschaftliche Ganze auswirkt. Die Mittelschicht höre am ehesten auf die Vernunft, beute die Armen nicht aus und beneide die Reichen nicht um ihren Wohlstand.

Stefan Hradil ergänzt: "Immer dann, wenn große Teile der Mittelschicht in die Bredouille gerieten, wurde es politisch instabil. Dann neigen diese bedrohten Teile der Mittelschicht auch dazu, relativ radikales Wahlverhalten an den Tag zu legen." Als Beispiel nennt er den Poujadismus im Frankreich der 1950er Jahre, eine Protestbewegung kleiner Handwerker und Händler, die später Vorbild für den rechtspopulistischen Front National wurde. Auch bei der Entstehung des Nationalsozialismus habe die Schwächung der Mittelschicht durch die Wirtschaftskrise der späten 1920er Jahre eine Rolle gespielt, erklärt der Soziologe. Der Staat sei deshalb gut beraten, etwas gegen die Verkleinerung der Mittelschicht zu unternehmen: "Weiterbildungen und positive Beispiele oder, soweit es Kinder betrifft, ein durchlässigeres und motivierenderes Schulsystem, gerade was die Kinder aus deutschen Unterschichtfamilien und Kinder aus Migrantenfamilien betrifft, sind wichtiger als je zuvor."

Die Politik ist in der Pflicht

Mehr als die Hälfte der Deutschen gehört auch nach der jüngsten Studie weiterhin zur Mittelschicht, damit steht Deutschland im internationalen Vergleich noch immer gut da. In vielen anderen Ländern sieht das Verhältnis deutlich schlechter aus, was man an objektiv messbaren Kriterien ablesen könne, sagt der Soziologe Stefan Hradil: "Je größer soziale Ungleichheit ist, desto stärker haben Sie mit Kriminalitäts- und anderen Problemen zu tun."

Doppelhaushälfte mit Auto (Foto: Fotolia)
Haus, Garten, Auto - viele Angehörige der Mittelschicht fürchten sich vor dem VerlustBild: Fotolia/VRD

Angesichts der starken Zunahme niedriger und niedrigster Einkommen, die einen Aufstieg in die Mittelschicht nahezu unmöglich machen, sieht Olaf Groh-Samberg auch die Regierung in der Pflicht. Sie müsse mit einer veränderten Arbeitsmarktpolitik dafür sorgen, dass der Zugang zur Mittelschicht wieder leichter möglich wird. Außerdem müsse die Politik sich Mittel und Wege überlegen, wie sie verhindern könne, dass es am obersten Rand der Gesellschaft immer weniger Solidarität gebe, so die Forderung des Bremer Wissenschaftlers. Denn wie schon Aristoteles erkannte, ist es wichtig, in allem die richtige Mitte zwischen den Extremen zu finden.