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"Die Hisbollah ist zu weit gegangen"

18. Juli 2006

Die Situation in Nahost spitzt sich immer weiter zu. Israelische, arabische und europäische Pressestimmen kommentieren die jüngsten Ereignisse.

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Israelische Stimmen

Die Online-Ausgabe der "Jerusalem Post" schreibt:

"Selbst US-Außenministerin Condoleeza Rice, die Israel und das Bedürfnis 'Extremisten außer Gefecht zu setzen' bisher standhaft verteidigt hat, sagte: 'Auf allen Seiten ist die Sorge um zivile Opfer groß, die Sorge, um die Zerstörung ziviler Infrastruktur.' Israel verdient keinen solchen Fingerzeig. Israel zielt nicht auf Zivilisten. Vielmehr verdient Israel Lob für seine Bemühungen zivile Opfer zu vermeiden. Würden unsere Kritiker, unter denen Rice noch die zurückhaltendste ist, es lieber sehen, wenn wir dicht bevölkerte Gebiete Beiruts bombardierten – wie die iranische Hisbollah es mit israelischen Städten macht – als Infrastrukturziele? (…) Das libanesische Volk bezahlt einen schrecklichen Preis dafür, dass ihre Regierung die Hisbollah unterstützt. Niemand wünscht sich das. Jedoch verteidigen die libanesischen Diplomaten noch immer das Recht der Hisbollah sich gegen die 'Besetzung' aufzulehnen - als ob Israel vor dem Angriff der Hisbollah auf einem einzigen Zentimeter libanesischen Landes gesessen hätte. (…) Das Problem ist, dass man dem Libanon nicht trauen kann, auch nur einen Finger gegen die Hisbollah zu heben, nachdem Israels militärischer Druck nachlässt, denn die Hisbollah stellt Minister in ihrer Regierung. In Folge dessen besteht fast Einstimmigkeit in Israel, darunter auch unter unseren Bürgern, die die Hauptlast der Raketenangriffe tragen, dass Israel sich die nötige Zeit nehmen soll, um die Hisbollah zu zerstören und konkrete, internationale Garantien für die libanesischen Versprechen zu erhalten."

Die englische Online-Ausgabe der Zeitung "Yedioth Ahronoth" meint:

"Die Hisbollah hätte Israel sicherlich nicht angegriffen ohne das Einverständnis, wenn nicht die völlige Unterstützung des Iran und Syriens, beide Länder mit ihren eigenen Motiven. Syrien will zeigen, dass es eine regionale Macht ist und nicht an den Rand gedrängt werden kann. Für den Iran war es nur ein anderer Weg, sich dem US- und EU-Druck, das Atomprogramm zu stoppen, in den Weg zu stellen, indem Israel gezwungen wurde, an zwei Fronten zu kämpfen. Unterstützt, ausgerüstet und finanziert vom Iran, und mit logistischer Hilfe und politischer Rückenstärkung seitens von Syrien, war die Hisbollah bereit zu handeln. Aber alle drei Länder haben die Antwort von Israel unterschätzt. Sie wurden von der Tatsache verblendet, dass die Hisbollah zu weit gegangen ist mit ihren Angriffen auf Zivilziele in Israel. Für die Israelis war dieser Akt inakzeptabel. Die Situation wandelte sich schnell in einen Krieg um, den Israel nicht verlieren will und sich nicht leisten kann, nicht zu beenden. Aus der Perspektive Israels muss die Hisbollah aufgelöst und zerstört werden. Für Syrien und den Iran zeichnet sich eine andere Einbuße ab: Wenn sich der Staub gelegt hat, wird sich der Einfluss des Libanon drastisch verringern. (…) Israel hat auch seinen Anteil an Fehlkalkulationen. Viele Jahre hat Israel ignoriert, wie wichtig es war, die Herzen und Gedanken der einfachen Palästinenser zu gewinnen und ihnen zu ermöglichen, sich von den radikalen Islamisten abzugrenzen. Israel hat eher zu einer 'Wie du mir, so ich dir'-Strategie und zu kollektiver Bestrafung gegriffen, die die Verbindung zwischen den einfachen Palästinenser und den Radikalen verfestigte, als eine Strategie zu verfolgen, die die einfachen Palästinenser belohnt und die Radikalen bestraft."

Arabische Pressestimmen

Die offizielle, in Doha erscheinende Tageszeitung "Al-Rayia" warnt vor den Folgen der israelischen Offensive gegen den Libanon:

"Der Nahe Osten steht womöglich vor einer gefährlichen Entwicklung, die unkontrollierbar zu werden droht und zu einem neuen, umfassenden Krieg führen könnte, sollte die internationale Staatengesellschaft nicht sofort eingreifen, vor allem um der Tragödie der arabischen Langzeit-Häftlinge in israelischen Gefängnissen ein Ende zu setzen. (…) Israel hat ihr trauriges Schicksal bis dato ignoriert, obschon dies einen zentralen Streitpunkt im arabischen-israelischen Konflikt darstellt. Die militärische Eskalation durch die israelische Armee verkompliziert die ohnehin schwierige Gemengelage in dieser Krisenregion. Der libanesische Widerstand formulierte ein klares Ziel für ihre Entführungsoperation: Die Freilassung aller Gefangene. Deshalb hat Israel keine andere Wahl - außer über einen Gefangenenaustausch zu verhandeln."

Der Kommentator der moderaten, in London erscheinenden transarabischen Zeitung "Al-Hayat" betrachtet die Hisbollah als nationale Befreiungsbewegung und geht mit der amerikanischen Nahost-Politik hart ins Gericht:

"Israel wird aus einem langen Krieg aller Voraussicht nach als Verlierer hervorgehen. Denn die israelische Gesellschaft wird deren traumatisierende Folgen nicht verkraften. Olmert weiß das, auch wenn seine Berater beteuern, die Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter dem Vorgehen der Armee. (…) Die Hisbollah ist eine nationale Befreiungsbewegung, die in der libanesischen Gesellschaft fest verankert ist, deshalb wird man sie in zwei oder drei Wochen nicht besiegen können. Verheerender als der derzeitige israelische Militär-Fetischismus im Libanon dürften jedoch die Folgen einer verfehlten, proisraelischen US-Nahostpolitik sein: Solange die Bush-Administration die Entführung der zwei israelischen Soldaten als 'reinen Terrorismus' betrachtet, zugleich aber die systematische Zerstörung der libanesischen Infrastruktur und Ermordung von Kindern und Frauen durch das von ihr bestens ausgerüstete israelische Militär als einen 'Akt der legitimen Selbstverteidigung' bezeichnet, wird sie weiter an Glaubwürdigkeit und Einfluss in dieser Region verlieren - und letztendlich der Hamas und Hisbollah neue Legitimität und Stärke bescheren."

Der Chefredakteur der panarabisch-nationalistisch orientierten Zeitung "Al-Quds Al-Arabi" zeigt kein Verständnis für die Forderungen nach Freilassung der entführten israelischen Soldaten:

"Alle arabischen und internationalen Stimmen, welche die Freilassung der von der Hisbollah entführten israelischen Soldaten fordern, entlarven sich als vollkommen blind vor der Aggressivität der israelischen Politik. Zur Erinnerung: Die israelische Armee hat in den letzten Monaten hunderte von arabischen Zivilisten ermordet, hält neun demokratisch gewählte Minister und 25 Abgeordnete des palästinensischen Parlaments fest. (…) Die qualitativ neue Operationen der Hisbollah und die unverhältnismäßigen Reaktionen Israels werden die Karten auf der politischen Karte des Nahen und Mittleren Ostens sicherlich neu mischen, den radikalen Anti-Amerikanismus fördern - und vor allem aber die labilen, unfähigen, US-devoten und undemokratischen arabischen Regime ins Bedrängnis bringen."

Europäische Pressestimmen

Die Pariser "Libération" sieht die Gefahr eines neuen Bürgerkriegs im Libanon:

"In einer so explosiven Region ist die Existenz eines unabhängigen und demokratischen Libanon lebenswichtig. Vor etwas mehr als einem Jahr hat der Mord am (libanesischen) Ex-Ministerpräsidenten Rafik Hariri ein beeindruckendes demokratisches Aufbegehren hervorgerufen, das zum Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon geführt hat. Doch leider könnte das mörderische Trommelfeuer der israelischen Armee gegen den Libanon all diese Anstrengungen wieder zunichte machen oder das Land gar in einen Bürgerkrieg stürzen. Dies zeigt, wie dringend eine Beilegung des Konklikts ist - auch für Israel."

Zu den Spannungen zwischen den EU-Staaten schreibt die linksliberale britische Zeitung "The Guardian":

"Wieder einmal ist die Stimme der Europäer angesichts einer internationalen Krise verstummt. Sie haben es bislang vermieden, ausdrücklich einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Wieder einmal ist sich Europa nicht einig. Großbritannien und Deutschland sind anderer Meinung als Frankreich und einige kleinere EU-Staaten. Eine einheitliche Stellungnahme der EU zu der Nahost-Krise ist wichtig, wenn die Europäer eine Rolle auf der politischen Weltbühne spielen und nicht alles den Amerikanern überlassen wollen. (...)

Der Krieg im Irak hat den Einfluss der USA in der Region stark geschwächt. Falls es wirklich dazu kommt, dass eine multinationale Sicherheitstruppe in den Libanon geschickt wird, müssen die europäischen Regierungen sich engagieren. Das erwarten auch ihre Bürger. Die EU darf nicht tatenlos zusehen und den USA wichtige Entscheidungen überlassen, während sich die Krise weiter zuspitzt."

Zur Eskalierung der Gewalt im Nahen Osten schreibt die Belgrader Tageszeitung "Danas":

"Israel hat tatsächlich das Recht, sein Territorium zu verteidigen. Aber die unverhältnismäßige starke militärische Antwort auf die Gefangennahme eines israelischen Soldaten deutet auch auf das Bestehen einiger anderer Motive für die neueste Eskalierung. (...) Der Hisbollah-Angriff hat Israel den legitimen Rahmen gegeben zurückzuschlagen. Ohne diesen wäre die Regierung Olmert praktisch politisch tot. Olmert hat die außergewöhnliche Chance nicht verpasst, einen tiefen politischen Konsens zu erreichen und einen Krieg zu führen, den die Mehrheit der Israelis unterstützt." (mia/lh)