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Front im Freundeskreis

Roman Goncharenko14. März 2014

Die Ukraine erlebt die wohl schwerste Krise seit Jahrzehnten. Der Machtwechsel in Kiew und Russlands Vorgehen auf der Krim spalten die Gesellschaft. Besonders im Osten geht der Riss oft durch Familien und Freundschaften.

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Menschen in Simferopol demonstrieren unter russischen und ukrainischen Fahnen - Foto: Sean Gallup (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images

Ihre wahren Namen möchten Andrej und Mykola nicht nennen. "Wer weiß, was noch kommt", sagt einer vorsichtig. Die beiden Männer sind Ende 30 und kennen sich seit rund 25 Jahren. Seit ihrem Studium an der Fachschule in der ostukrainischen Provinzstadt Krementschuk sind sie enge Freunde. Andrej hat russische Wurzeln, Mykola ist Ukrainer. Bisher machte sich dieser Umstand in ihrem Leben kaum bemerkbar. Beide sprechen Russisch als Muttersprache, wie die meisten Menschen in der 225.000-Seelen-Stadt am Dnjepr-Fluss, der die Ukraine in zwei Teile teilt.

Andrej ist Bauingenieur, sein Freund Mykola arbeitet als Lokführer. Beide sind Familienväter, beide interessieren sich mehr fürs Fischen als für Politik. Doch die Krise in der Ukraine hat ihre Freundschaft auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Irgendwann Anfang März trafen sie sich auf ein Bier. Das Gespräch dauerte mehrere Stunden. "Danach konnte ich die halbe Nacht nicht schlafen", sagt Andrej. Es stellte sich heraus, dass die beiden Freunde einander nicht mehr verstehen.

Zwei Freunde, zwei Meinungen

Die Oppositionsbewegung in der Hauptstadt Kiew sei vom Westen gesteuert, glaubt Andrej. Auch rechtsextreme Kräfte sind ihm suspekt, wie der "Rechte Sektor", der bei Zusammenstößen mit der Polizei eine wesentliche Rolle gespielte hatte. Andrej spricht von "Faschisten".

Zehntausende kamen zur Demonstration auf dem Kiewer Maidan gegen den Einmarsch russischer Truppen (Foto: DW)
Demonstration auf dem Kiewer Maidan: "Es gab keinen faschistischen Staatsstreich"Bild: DW/L. Grischko

In dem de facto-Einmarsch Russlands auf der ukrainische Halbinsel Krim sieht Andrej einen Versuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin, den Stützpunkt der Schwarzmeerflotte zu erhalten. Sollte es zu einem Krieg mit Russland kommen, will sich Andrej daran nicht beteiligen. Er schließt aber nicht aus, dass er dazu von der Regierung in Kiew gezwungen werden könnte.

Mykola findet, dass sein Freund Opfer der russischen TV-Propaganda geworden ist. "Es gab in der Ukraine keinen faschistischen Staatsstreich", sagt er. Der Machtwechsel in Kiew sei das Ergebnis einer "sozialen Revolution, an der sich alle Schichten der Gesellschaft beteiligt haben", sagt Mykola. Wegen der Ereignisse auf der Krim sei Russland für ihn ein "Aggressor". "Putin rächt sich an der Ukraine dafür, dass wir nicht unter seinem Kommando leben möchten und dafür, dass wir den Präsidenten Viktor Janukowitsch gestürzt haben", sagt Mykola. Er hat sich freiwillig bei der ukrainischen Armee gemeldet. "Ich habe als Kommandeur in einer Sondereinheit der Marine gedient, zuständig für Panzerabwehr. Wenn ich gebraucht werde, ziehe ich in den Krieg", sagt er. Wenn Andrej solche Sätze seines Freundes hört, wird er traurig.

Spaltung der Gesellschaft vertieft sich

Für Soziologen sind solche Geschichten ein Paradebeispiel für eine Spaltung in der ukrainischen Gesellschaft. Diese Spaltung habe es immer gegeben, doch jetzt werde sie tiefer, sagt Ljudmyla Schangina vom Rasumkow-Zentrum für wirtschaftliche und politische Studien in Kiew. Betroffen seien vor allem der Osten und der Süden der Ukraine, wo viele Ukrainer mit russischem Hintergrund leben.

Der von Gewalt überschattete Machtwechsel in Kiew und die russischen Truppen auf der Krim hätten doppelt Einfluss auf die Gesellschaft, sagt Schangina. "Die einen sind von Russlands Vorgehen enttäuscht und haben sich für Europa und gegen Moskau entschieden, die anderen haben sich endgültig auf eine Reintegration mit Russland festgelegt", sagt die Expertin. Wozu diese Spaltung führen könnte, sei noch nicht absehbar. Empirische Daten darüber lägen noch nicht vor.

Plakat zum Krim-Referendum: Westukrainer als "Nazis" und "Faschisten" beschimpft (Foto: Reuters)
Plakat zum Krim-Referendum: Westukrainer werden als "Nazis" und "Faschisten" beschimpftBild: Reuters

Für Schangina steht fest: Russland führt per Fernsehen einen Informationskrieg gegen die Ukraine. "Wir, Ukrainer, haben diesen Krieg unterschätzt und deshalb verloren", glaubt sie. Im wirklichen Leben bedeutet das, dass viele Ukrainer im Osten Angst vor Ukrainern aus dem Westen des Landes hätten. Westukrainer waren die treibende Kraft bei der oppositionellen Bewegung auf dem Maidan in Kiew.

Im russischen Fernsehen, das von vielen in der Ostukraine empfangen wird, werden Westukrainer als "Nationalisten", "Nazis" und "Faschisten" beschimpft. Schangina hält diese Angst vor Rechtspopulisten für übertrieben. Sie meint aber, dass man über sie sprechen soll.

Emotionaler Ausnahmezustand

Wenn Andrej und Mykola aus Krementschuk miteinander reden, stoßen ihre Argumente jeweils auf taube Ohren beim anderen. Beide sind frustriert und enttäuscht. Die Kiewer Expertin Schangina findet das typisch für solche Krisensituationen: "Emotionen dominieren". Sie erklärt das unter anderem damit, dass sich die Ukrainer seit über drei Monaten in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden: erst die Revolution in Kiew, dann die Abspaltung der Krim. "Es gab keine Pause, um das Geschehene zu verarbeiten."

Für Andrej ist es besonders schwer. Er erlebt die gesellschaftliche Spaltung nicht nur in Gesprächen mit seinem Freund Mykola, sondern auch in der Familie: Seine Ehefrau stammt aus der Westukraine. "Ich habe überlegt, nach Russland auszuwandern, doch meine Frau sagte nein", gibt Andrej zu. Um Ehekrach zu vermeiden, versucht er in diesen Tagen, mit seiner Frau nicht mehr über Politik zu reden.