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Die Frauen von Schyrokyne

Frank Hofmann 24. April 2015

Nicht überall in der Ukraine hält der vereinbarte Waffenstillstand - zum Leid der verbliebenen Zivilisten. Oft sind es vor allem Frauen. Sie fragen: Wann ist es endlich vorbei? Von Frank Hofmann, Schyrokyne.

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Eine Frau im ukrainischen Ort Schyrokyne (Foto: DW)
Bild: Evgeniy Maloletka

An der Front in der Ost-Ukraine

Maschinengewehrfeuer ist überall in Schyrokyne zu hören. Die prorussischen Rebellen, die in dem 3000-Einwohner-Ort ihre Stellungen haben, können am Ortsrand ihre Gegner sogar sehen: Nur 500 Meter liegen an einigen Stellen zwischen ihnen und den regierungstreuen Soldaten. Durch Schyrokyne im Südosten der Ukraine verläuft also die Front. Zehn Kilometer westlich liegt Mariupol, kontrolliert von der ukrainischen Armee. Doch auch die Rebellen erheben Anspruch auf die Hafenstadt am Asowschen Meer. Die Regierung in Kiew geht davon aus, dass der nächste große Kampf hier stattfindet, dass die Rebellen Mariupol einnehmen wollen - unterstützt von Russland, das so eine Landverbindung zur annektierten Halbinsel Krim schaffen will. Der Weg nach Mariupol führt durch Schyrokyne.

Tatjana Babikova lebt noch immer hier in der Stepnaya-Straße - als letzte ihrer Familie. Sie steht nicht weit von ihrem Elternhaus und spricht mit Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Diesmal haben die Rebellen die OSZE-Leute passieren lassen. Das ist nicht immer so, obwohl im Mitte Februar geschlossenen Waffenstillstandsabkommen von Minsk völlige Bewegungsfreiheit für die Vertreter der internationalen Gemeinschaft vereinbart wurde.

"Was soll das für ein Waffenstillstand sein?"

Schyrokyne ist einer der Orte, wo fast täglich weiter gekämpft wird - trotz des Mitte Februar vereinbarten Waffenstillstands. "Soviel Energie kann man gar nicht haben, um das zu überstehen", sagt Tatjana Babikova, dann wird wieder geschossen. "Wie soll ich mich hier fühlen? Gestern gab es Granatenbeschuss, eine Granate landete in einem Wohnhaus, was soll das für ein Waffenstillstand sein?", fragt die 63-Jährige.

Rebellen im ukrainischen Ort Schyrokyne (Foto: DW)
Kämpfer in Schyrokyne: Viele der Rebellen wollen ihr Gesicht nicht zeigenBild: DW

Gegenüber stehen zwei Rebellen mit Gewehren im Anschlag. Babikova lehnt die Separatisten ab, und unterstützt die proeuropäische Regierung in Kiew. Sie lebt im Feindesland. Ein Teil der Familie ist nach Kanada ausgewandert. Mit dem Geld der Verwandten hat sie einst ein Stück Ackerland dazu gekauft - das liegt jetzt auf der anderen Seite der Front, auf von den Regierungstruppen kontrolliertem Gebiet. Die OSZE-Leute sind für Babikova Garanten der Sicherheit und moralische Instanz. "Liebe Kinder", sagt sie zu den Beobachtern, "bitte beschützt uns mit allem, was ihr habt, mit all eurem moralischen Anspruch. Unser Land, unsere Kinder haben ihre Werte schon vor langer Zeit verloren." Und wieder ist Maschinengewehrfeuer am gegenüberliegenden Ortsrand zu hören.

Die meisten Verbliebenen sind Frauen

Mehr als 30 Zivilisten leben noch immer hier in Schyrokyne, die meisten Bewohner sind schon vor Monaten geflüchtet. Vor einem halben Jahr wurde der Ort noch ganz von ukrainischen Truppen kontrolliert, jetzt haben in der Ortsmitte Rebellen Stellung bezogen. Offenbar nach heftigen Kämpfen. Kaum ein Haus entlang der Hauptstraße hat noch Fenster. Es gibt keinen Strom mehr, kein Trinkwasser. Hin und wieder kommt das Internationale Komitee des Roten Kreuzes und bringt den Menschen Hilfe. Unregelmäßig - immer dann, wenn die Rebellen sie in den Ort lassen. So wie heute die Beobachter der OSZE, die im Moment alles daran setzen, die verbliebenen Bewohner regelmäßig zu besuchen. Es ist der einzige Schutz, den sie ihnen bieten können.

Tatjana Babikow aus dem ukrainischen Ort Schyrokyne (Foto: DW)
Tatjana Babikova ist in Schyrokyne gebliebenBild: DW

Die meisten verbliebenen Einwohner sind Frauen wie Tatjana Babikova. "Ich glaube, das hier ist das Ende für mich, erst vor kurzem war ein Russe hier und hat eine Liste geschrieben mit unseren Namen und unseren Adressen, er sagte, er hätte eine Mutter wie ich." Sie habe ihm gesagt, dass ihr Mann Russe gewesen sei, ihre Kinder seien also halb ukrainisch, halb russisch. Vielleicht hilft es ja, dass sie in Ruhe gelassen wird. Die Angst hat sich in ihren Alltag gefressen: "Vielleicht lebe ich nach dem heutigen Tag nicht mehr. Ich darf euch das alles ja gar nicht sagen." Ein paar Tage später heißt es, Babikova sei nach diesem Besuch der OSZE-Beobachter bedroht worden. Wenn sie noch einmal rede, würde sie von den Rebellen getötet.

Ruhe in der Region Luhansk

Mehr als 400 Kilometer Front trennen die prorussischen Separatisten und die ukrainischen Truppen. In den meisten Orten entlang der sogenannten "Kontaktlinie" halte der Waffenstillstand, meldet die OSZE-Mission in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Daran, dass das so bleibt, glauben aber im Osten der Ukraine nur wenige. In Luhansk, der zweiten Rebellenregion im Norden der Separatisten-Gebiete, wird tatsächlich kaum noch geschossen. Auf ukrainischer Seite bildet der Arbeiterort Stschastje die Grenze. Dort ist es ruhig. Dennoch sagt einer der Soldaten am Checkpoint: "Die Rebellen werden weitermachen. Aus ihrer Sicht ist ihr erobertes Gebiet doch viel zu klein." Die Rebellen kontrollieren 40 Prozent der Region. Vor zweieinhalb Monaten wurde der Waffenstillstand in Minsk ausgehandelt, zwischen Russland, der Ukraine, Deutschland und Frankreich. Dass er hält, glauben immer noch die wenigsten. Doch immer mehr wollen einfach nur Frieden.

Zerstörte Geschäfte im ukrainischen Ort Schyrokyne (Foto: DW)
Viele Geschäfte in Schyrokyne wurden geplündert und zerstörtBild: DW

In Schyrokyne fragt Galina, eine der ältesten unter den Frauen, einen OSZE-Beobachter vor ihrem eisernen Gartentor: "Was glauben Sie, wann ist dieser Krieg vorbei?" Der angesprochene Beobachter muss schlucken: "Bitte glauben Sie uns, wir arbeiten daran." Es ist nicht der erste Krieg, den die etwa 80-jährige Frau durchmachen muss. Der letzte endete vor 70 Jahren.