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Deutsche Ärzte heimlich in Syrien

Naomi Conrad28. Mai 2013

Operationen ohne Betäubung in ausgebombten Kellern: Das syrische Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, es fehlt an Medikamenten und Personal. Ärzte aus Deutschland wollen helfen.

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Eine Mutter wartet mit ihrem verwundeten Kind auf die Behandlung in einem Krankenhaus (Foto: AFP/Getty Images)
Bild: Z.Baillie/AFP/Getty Images

Als im düsteren Keller das letzte Schmerzmittel aufgebraucht war, fing der Patient an zu schreien und sich vor Schmerzen zu krümmen. "Wir haben einfach weiteroperiert", erzählt Omar leise. "Wir hatten doch keine andere Wahl. Sonst wäre er verblutet." Die Schreie des Mannes, dessen Bauch von einem Granatsplitter zerfetzt worden war, hallen noch immer in Omars Albträumen nach - auch jetzt, Monate nachdem er wieder aus Syrien nach Deutschland zurückgekehrt ist.

Omar heißt eigentlich ganz anders. Der syrische Chirurg arbeitet in einer Klinik in einer Stadt in Deutschland, deren Namen er geheim halten möchte: Der Mann, der sich also Omar nennt, hat Angst um seine Eltern und Geschwister in Aleppo. Keiner darf erfahren, dass er in einer kalten Nacht vor ein paar Monaten über die türkisch-syrische Grenze nach Syrien geschlichen ist, um einem verzweifelten Aufruf auf Facebook zu folgen. Hilfe bekam er von befreundeten Ärzten: Syrer, die in Deutschland und Frankreich leben und ein informelles Netzwerk bilden. Gemeinsam sammeln sie Medikamente und medizinische Instrumente und bringen sie auf eigene Faust über die Grenze - trotz der Gefahren.

Gezielte Angriffe auf Krankenhäuser

Hätte jemand erfahren, dass Omar eine Woche lang in verschiedenen Kellern und ausgebombten Häusern Patienten behandelt hat, hätte das seine Familie in große Gefahr gebracht, ist er sich sicher. Vor einigen Wochen wurde ein Allgemeinmediziner, ein guter Freund aus seiner Studienzeit, in Aleppo ermordet. "Ein paar Polizisten sind in seine Praxis gekommen und haben ihn einfach so erschossen", sagt Omar. Sein Freund hatte sich geweigert, weiterhin mit den syrischen Sicherheitskräften in Aleppo zusammenzuarbeiten - am nächsten Tag war er tot, berichtet Omar.

Ein Arzt operiert in einer Klinik in Syrien (Foto: Ärzte Ohne Grenzen)
Arbeiten unter schwierigen Bedingungen: Eine Klinik von Ärzte ohne GrenzenBild: Ärzte ohne Grenzen

"In Syrien werden gezielt Krankenhäuser und Ambulanzfahrzeuge angegriffen", bestätigt Tankred Stöbe, Vorstandsvorsitzender von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. Fast 60 Prozent aller Krankenhäuser und 80 Prozent aller Krankenwagen seien bei den Kämpfen zwischen den Rebellen und der syrischen Armee beschädigt worden. "Das zeigt: Das ist nicht zufällig, das sind gezielte Angriffe." Die internationale Hilfsorganisation betreibt nach eigenen Angaben fünf Notkliniken in Syrien. Sie liegen alle in Dörfern und Städten, die von den Rebellen kontrolliert werden. "Das Regime verweigert uns den Zugang in seine Gebiete." Stöbe hat Ende vergangenen Jahres geholfen, eine solche Klinik in einer kleinen Berggrotte in Nordsyrien aufzubauen. Wo genau die Höhle liegt, möchte er nicht sagen: "Sicherheitsbedenken." Die ganze Region "ist eigentlich immer unter Dauerbeschuss" - und auch die Klinik von Ärzte Ohne Grenzen könnte leicht zur Zielscheibe werden.

Menschen verbluten, weil keine Hilfe vor Ort ist

Stöbes Team musste die gesamte Einrichtung für die kleine Klinik nachts heimlich auf improvisierten, ständig wechselnden Transportwegen aus der Türkei über die Grenze schaffen. "Alles, vom Operationstisch und Verbandsmaterial bis hin zu Medikamenten." Die syrische Medikamentenproduktion sei zum Erliegen gekommen, es fehle an Arzneimitteln und Verbandsmaterial, viele Ärzte und Krankenpfleger sind aufgrund der seit zwei Jahren anhaltenden Kämpfe längst geflohen. Kinder werden nicht mehr geimpft. "Ich habe dutzende Geschichten von Menschen gehört, die verblutet sind, weil einfach keine Hilfe vor Ort war." Denn bei Kriegsverletzungen, also schwersten Granaten- und Schussverletzungen, zähle jede Minute: "Man spricht da von einer goldenen Stunde - wenn nicht innerhalb von einer Stunde operiert wird und die Blutungen gestoppt werden, kommt jede Hilfe zu spät."

Die Patienten erreichen Stöbes Klinik nachts. Manche würden mit Kleinlastwagen transportiert, deren Scheinwerfer abgedunkelt seien, andere kämen zu Fuß, erzählt der Arzt aus Berlin. Das Transportsystem in Nordsyrien sei völlig zum Erliegen gekommen, die Autobahn verwaist. Viele Straßen seien vermint und von Granaten beschädigt worden, Barrikaden und Checkpoints verhindern den Zugang zu größeren Städten. "Die Grenzverläufe ändern sich jeden Tag, oft jede Stunde." Dörfer würden über Nacht völlig abgeschnitten.

Für viele Menschen sind die kleinen, improvisierten Dorfkliniken in ausgebombten oder versteckten Häusern deshalb der einzige Zugang zu einer medizinischen Versorgung. "Obwohl das Wort 'Klinik' eigentlich falsch ist: Das war lediglich ein Zimmer in einem Keller", sagt Omar. Strom habe es nur sporadisch gegeben, oft musste er mit Hilfe einer Taschenlampe operieren.

Ärzte ohne Grenzen-Mitarbeiter Tankred Stöbe (Foto: Ärzte Ohne Grenzen)
Tankred Stöbe fürchtet, dass es im Sommer zu Epidemien kommen könnteBild: Ärzte ohne Grenzen

Blutgefäße mit Haarspangen gestillt

Er hat zusammen mit Medizinstudenten im ersten Semester und Krankenpflegern gearbeitet, Menschen also, die völlig unvorbereitet waren auf die Patienten, die täglich in die improvisierte Kellerklinik strömten. "Jede Nacht kamen die Verletzten", erzählt Omar: Menschen, die bei Bombenangriffen verletzt wurden, schwangere Frauen, Patienten mit Asthma und anderen chronischen Krankheiten, die keine Medikamente mehr finden können. Nach ein paar Tagen seien die Medizinreserven, die er in der Türkei eingekauft hatte, aufgebraucht gewesen. "Wir hatten kaum medizinische Instrumente, unsere Instrumente haben wir im Ofen erhitzt, um sie so gut wie möglich zu sterilisieren." Natürlich sei das völlig unzureichend gewesen: "Aber was hätten wir denn sonst tun sollen?" Oft musste Omar Blutgefäße mit Haarspangen abklemmen, um Blutungen zu stillen. "Das sollte ich mir patentieren lassen", Omar lacht. Es ist ein verzweifeltes, fast hysterisches Lachen.

Er sei völlig unvorbereitet nach Syrien gefahren. "Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm ist, dass ich so viel Schreckliches sehen würde." Nach einer Woche in Syrien habe er von einem Bombenangriff auf ein benachbartes Dorf gehört und sei mit ein paar Kollegen sofort losgefahren. "Ich bin ausgestiegen und in ein ausgebombtes Haus gegangen, aus dem Schreie kamen. Und dann haben sie den Pick-up bombardiert." Omar macht eine kurze Pause, atmet ein paar Mal heftig ein und aus, schluckt, erzählt dann weiter. Er sei sofort zurückgerannt, "aber da war nichts mehr: der Pick-up, meine Freunde, alles weg. Überall lagen Leichenteile." Er sei nur zwanzig Sekunden vom Tod entfernt gewesen, sagt er leise. Am nächsten Tag ist er zurück in die Türkei und nach Deutschland gereist. "Ich konnte nicht mehr."

Der Hölle entkommen - syrische Kriegsopfer in deutschen Krankenhäusern

"Als hätte ich diese Menschen getötet"

"Heute Nacht werde ich wieder nicht schlafen können", sagt Omar am Ende des Gesprächs. Er wird wieder das Gesicht eines sechsjährigen Mädchens vor sich sehen, dessen Bein er amputieren musste, weil ihm das spezialisierte Werkzeug fehlte, um es zu retten. Er wird wieder die Schreie des Mannes hören, für den es nicht genug Schmerzmittel gab - und er wird sich fragen, ob er wieder nach Syrien reisen soll, um Menschen zu retten. Im Sommer hat er eine Woche Urlaub. "Nur in Deutschland gültig", hat sein Chef auf den Urlaubsschein geschrieben. "Das war ein Scherz. Aber er will nicht, dass ich wieder nach Syrien gehe." Omars Frau weint seit Wochen, bettelt ihn an, nicht zu gehen. Er solle an seine Familie denken, an seine beiden Kinder und nicht sein Leben riskieren.

Ja, gibt Omar zu, er habe große Angst davor, zurück nach Syrien zu gehen: "Aber wenn ich in Deutschland bleibe, dann sterben Menschen, die ich retten könnte." In gewisser Weise, glaubt Omar, sei er für den Tod dieser Menschen mitverantwortlich - so, als habe er sie getötet, nicht die Bomben und Granaten des Bürgerkrieges. "Ich muss helfen, ich bin doch Arzt." Omar macht eine kurze Pause, fügt dann hinzu: "Ich hasse Assad, aber wenn er verletzt in meine Klinik kommen würde, dann würde ich auch ihm helfen."