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Wiedergutmachung und Sühne

27. September 2011

Vor 60 Jahren - am 27. September 1951 - leitete Bundeskanzler Adenauer mit seiner Regierungserklärung die deutsch-israelischen Wiedergutmachungs-Verhandlungen ein. Aber wie konnten NS-Verbrechen materiell gesühnt werden?

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Flaggen Deutschland Israel

"Im Namen des deutschen Volkes sind unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten", so Konrad Adenauer vor dem Deutschen Bundestag. Damit hatte der Bundeskanzler nicht nur die Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes eingestanden. Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete sich darüber hinaus zur Wiedergutmachung gegenüber dem jüdischen Gemeinwesen. "Der Wortlaut war vorher wochenlang genau zwischen Emissären Israels, den großen jüdischen Organisationen in den USA und der Bundesregierung verhandelt worden. Es war also keine spontane Regierungserklärung", erklärt Hans Günter Hockerts, Historiker und Autor von Standardwerken über die Entschädigung von NS-Opfern.

Verhandlungen auf neutralem Boden

Konrad Adenauer im Bundestag (Archivfoto: AP)
Konrad Adenauer im BundestagBild: AP

Die Verhandlungen wurden am 21. März 1952 im niederländischen Wassenaar eröffnet. Neben der Bundesrepublik und Israel nahm an den Gesprächen auch die "Conference of Jewish Claims against Germany" teil - ein Zusammenschluss von zunächst 22 jüdischen Organisationen, die die außerhalb Israels lebenden Opfer des Nationalsozialismus vertraten. Nach knapp sechsmonatigen intensiven Verhandlungen wurde am 10. September 1952 das Wiedergutmachungsabkommen im Rathaus von Luxemburg unterzeichnet. Zuvor hatten beide Seiten zäh um jeden einzelnen Paragraphen gerungen. Es ging zu wie bei einem "finanziellen Kuhhandel", erinnerte sich später Nahum Goldmann, der Präsident der Claims Conference.

Materielle Wiedergutmachung

Während der Verhandlungen spielten sich vor dem israelischen Parlament tumultartige Szenen ab. "Was sollen unsere ermordeten Großeltern pro Stück kosten?", hieß es auf Transparenten demonstrierender Holocaust-Überlebender, während die Delegationen um die Höhe der Wiedergutmachung stritten. "Man wählte einen rationalen Maßstab, nämlich die Eingliederungskosten überlebender Flüchtlinge in Israel", resümiert Historiker Hockerts. "Da hatte man einen Anhaltspunkt, etwas quantifizieren zu können. Im Rahmen des Luxemburger Abkommens ist aber auch gewissermaßen die Erstausstattung der israelischen Handelsmarine vereinbart worden, neben der Lieferung von Öl und chemisch-pharmazeutischer Produkte."

Deutsche Unterstützung

10. September 1952: in Luxemburg unterzeichnen Konrad Adenauer und Israels Außenminister Moshe Sharett das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen (Foto: dpa)
Feierliche Unterzeichnung des AbkommensBild: picture-alliance/ dpa

Insgesamt erhielt Israel von der Bundesrepublik Warenlieferungen im Wert von drei Milliarden D-Mark (etwa 1,5 Milliarden Euro) - verteilt auf zwölf Jahre. Die Claims Conference bekam 450 Millionen D-Mark. In den 1960er und 1970er Jahren war die Bundesrepublik zweitwichtigster Waffenlieferant Israels.

Ohne diese Hilfe hätte der jüdische Staat möglicherweise die ersten beiden Nahost-Kriege nicht über­lebt. Paradoxerweise hatte Adenauers engster Berater Hans Globke, der maßgeblich am Wiedergutmachungsabkommen mitwirkte, während der NS-Zeit einen grundlegenden Kommentar zu den antisemitischen Nürnberger Rassegesetzen verfasst. Die Israelis nahmen daran keinen Anstoß.

Loyalität gegenüber Nachkriegsdeutschland? "Loyalität würde ich das nicht nennen", meint der israelische Publizist und Historiker Tom Segev, "dahinter steckten realpolitische Erwägungen: Deutschland wurde schon damals als eine bedeutende Macht für Israel erkannt. Man machte sich große Mühe, die Regierung Adenauers nicht zu beleidigen."

Widerstände in Deutschland und Israel

David Ben-Gurion (li.) und Konrad Adenauer in New York (Archivfoto: dpa)
David Ben-Gurion (li.) und Konrad Adenauer in New YorkBild: picture-alliance/ dpa

Die Väter des Abkommens, David Ben Gurion und Konrad Adenauer, folgten beide einer politischen Interessenlogik: Während der Kanzler die Westintegration der Bundesrepublik vorantreiben wollte und die Wiedergutmachung eine Vorbedingung der Westmächte dafür war, wollte der israelische Premierminister den Aufbau des eigenen Staates beschleunigen. Gleichwohl waren die deutschen "Zahlungen", wie sie in Israel genannt wurden, höchst umstritten. Gegner der Wiedergutmachung waren zumeist überlebende Opfer des Holocaust. Sie argumentierten, die Verhandlungen würden das jüdische Volk zu einem Instrument deutscher Politik machen. Viele bezweifelten, dass Deutschland den finanziellen Verpflichtungen überhaupt nachkommen werde. "Es gab eine scharfe Opposition", sagt Asher Ben Nathan, der erste israelische Botschafter in der Bundesrepublik.

Widerstand gegen das Abkommen gab es aber auch auf deutscher Seite, und zwar sowohl in der Regierung Adenauer als auch in den Medien. Die Gegner des Vertrages argumentierten formaljuristisch, Israel habe gar kein Recht auf Reparationen, da der jüdische Staat während des Krieges noch gar nicht existiert habe. Deshalb könnten Zahlungen nur an einzelne Überlebende geleistet werden. Ohne die geschlossene Zustimmung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion hätte Adenauer das Abkommen gar nicht durchsetzen können. Folgt man damaligen Meinungsumfragen, dann haben rund zwei Drittel der Bevölkerung dieses Abkommen nicht unterstützt.

Wiedergutmachung und Kalter Krieg

Doch Adenauer brachte das Abkommen zustande - auch gegen den Druck arabischer Staaten und deren Sanktionsdrohungen. Dabei war das sogenannte "deutsche Wirtschaftswunder" 1952 noch längst nicht gesichert. Der Bundeshaushalt hatte damals eine Größenordnung von etwa 23 Milliarden D-Mark. Die Westmächte bestanden darauf, dass der westdeutsche Staat während des Kalten Krieges Wiederbewaffnungskosten von 13 Milliarden D-Mark einplante. Gleichzeitig verpflichtete sich die Bundesrepublik, deutsche Auslandsschulden aus der Vor- und Nachkriegszeit in Höhe von 14,5 Milliarden D-Mark zu übernehmen.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik hatte die DDR bis zu ihrem Ende jede Form von Wiedergutmachungsleistungen abgelehnt - sowohl dem Staat Israel als auch der Claims Conference gegenüber. Zieht man eine Bilanz der deutschen Wiedergutmachungsleistungen, dann ist im Zuge "der individuellen Entschädigung sehr, sehr viel mehr Geld geflossen als durch das Israel-Abkommen", so die Bilanz des Historikers Hans Günter Hockerts. Insgesamt wurden nach dem Bundesentschädigungsgesetz rund 83 Milliarden D-Mark gezahlt.

Wer Opfer wurde, blieb Opfer

Bis heute gehört es zur sozialen und psychischen Situation von Holocaust-Überlebenden, dass nicht aus­zugleichen ist, was ihnen widerfuhr.

Jean Amery (Archivfoto: dpa)
Jean Amery (1912 - 1978)Bild: pa / dpa

Wer Opfer wurde, blieb es, schrieb Jean Améry (1912-1978), der in Österreich als Hans Mayer geborene und später in Belgien lebende Essayist und KZ-Überlebende. Irgendwann einmal werde alles sein, als wäre es nie gewesen:

"Mörder und Ermordete werden kahl und kalt im Nichtigen nebeneinander sein, die einen nicht schlechter als die anderen. Aber alles Humane fordert: Nicht Recht, das es hier nicht geben kann, noch Rache, die unausdenkbar wäre, nur: Dass man die Opfer begnadige, nicht die Henker."

Autor: Michael Marek
Redaktion: Hartmut Lüning