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Ein Traum lebt weiter

Simon Broll, Washington1. Juli 2014

Am 2. Juli 1964 endete in den USA die Rassentrennung. Doch noch heute kämpfen in Washington Afroamerikaner für Gleichstellung. Besonders benachteiligt sehen sie sich durch steigende Mieten und schlechte Bildung.

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USA Civil Rights Act
Bild: DW/S. Broll

Wenn Judy Hawkins in ihrem Viertel unterwegs ist, nimmt sie die Veränderungen wahr. Die Sozialarbeiterin lebt seit mehr als 40 Jahren in Anacostia, dem bekannten schwarzen Stadtteil im Südosten von Washington. Lange Zeit waren die Straßen rund um Hawkins' Arbeitsplatz vom Verfall gezeichnet: heruntergekommene Fassaden, viele Spirituosenläden. Heute kann man neben alten Bretterbuden auch blau gestrichene Einfamilienhäuser mit getrimmten Rasen und "Betreten verboten"-Schildern auf den Grundstücken sehen. "Morgens sieht man weiße Menschen aus diesen Häusern kommen", sagt Hawkins kopfschüttelnd. "Das gab es hier früher nicht."

Bürgerrechtler Martin Luther King 1963 in Washington DC. (Foto: ullstein bild - AP)
"I have a dream": In Washington D.C. hielt der Bürgerrechtler Martin Luther King seine RedeBild: ullstein bild - AP

Anacostia befindet sich im Wandel - was eigentlich ein gutes Zeichen für ein Viertel sein sollte, dessen #link:http://anacostia.wusa9.com/news/news/495201-jobs-coming-back-dcs-ward-8:Arbeitslosenquote mit 17 Prozent# mehr als doppelt so hoch liegt wie im Rest der Stadt. Doch die Frage, die sich Judy Hawkins stellt, lautet: für wen findet dieser Wandel statt? "Jetzt, wo alle Schulen aufgewertet und verschönert werden - ebenso wie die Häuser und Läden - habe ich das Gefühl, dass das nicht für uns gemacht wird", sagt die Afroamerikanerin.

Sozialer Brennpunkt Anacostia

Hawkins hat jeden Tag mit Menschen zu tun, die am Rande des Existenzminimums leben. Im Sozialzentrum #link:http://www.breadforthecity.org/:"Bread for the City"#, das an der Straße mit dem vielversprechenden Namen "Good Hope Road" liegt, bietet sie mit ihren Kolleginnen Lebensmittel, Kleidung und Beratungen an. Fast alle Besucher der Einrichtung sind schwarz.

Deren größte Sorge sei die Wohnsituation, erklärt Hawkins' Kollegin Aja Taylor: "Man kann in Anacostia fast kein Haus mehr finden, das weniger als 200.000 US-Dollar kostet." Noch vor fünf Jahren sei das anders gewesen. "Die Aufwertungen und die Verschönerungen hier bei uns sind eine gute Sache. Aber die Leute, die bereits hier lebten, als es nichts gab, sollten davon profitieren können."

Von der Sklaverei zur "Chocolate City"

Sozialarbeiterinnen Aja Taylor (links) und Sherita Evans von der Organisation „Bread for the City“ aus Anacostia. Foto: Simon Broll/DW
Immer mehr Häuser sind unbezahlbar, klagen Aja Taylor (links) und Sherita Evans von "Bread for the City"Bild: DW/S. Broll

Washington und die afroamerikanische Bevölkerung haben eine bewegte Geschichte. Das Weiße Haus und das Kapitol entstanden durch Sklavenarbeit. Andererseits galt die Stadt nach Abschaffung der Sklaverei als Magnet für befreite schwarze Bürger. Junge Afroamerikaner konnten an der Howard University studieren, ältere fanden Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst. 1957 hatte Washington als erste Metropole der Vereinigten Staaten einen größeren Anteil an schwarzen als an weißen Bewohnern. In dieser Zeit erhielt Washington den Spitznamen "Chocolate City".

Doch der Trend ist rückläufig. 2011 fiel die Zahl der Afroamerikaner #link:http://www.nytimes.com/2011/07/18/us/18dc.html?pagewanted=all&_r=1&:erstmalig unter 50 Prozent#. Das Allzeithoch lag bei 71 Prozent im Jahre 1970. Experten meinen, der Hauptgrund sei die steigende Attraktivität der Stadt und die damit verbundene Gentrifizierung.

Gentrifizierung in der Innenstadt

"Washington ist kosmopolitisch geworden", sagt Ethelbert Miller. Der Leiter des African American Resource Centers an der Howard University kam 1968 nach Washington DC. "Damals war es noch eine stark nach Rassen getrennte Stadt", sagt der 64-jährige Afroamerikaner. Miller sitzt in einem Restaurant nahe der U-Street im Herzen Washingtons. Die Straße war früher bekannt unter dem Namen "Black Broadway". Sie stellte das Zentrum der schwarzen Kulturszene dar. "Hier hat man nie weiße Menschen zu Gesicht bekommen", sagt Miller, der in direkter Nachbarschaft lebte.

Jugendliche in Anacostia. (Foto: Simon Broll/DW)
Ohne Zukunft - ein Fünftel der Jugendlichen in Anacostia legt keinen Schulabschluss abBild: DW/S. Broll

Dann kamen die Solarien an die U-Street. "Das war das erste deutliche Zeichen für uns, dass sich die Dinge für immer verändert haben", meint Miller. Neue Restaurants und Einkaufsläden wurden eröffnet, die Preise stiegen in die Höhe. Heute sei die Gegend von weißen Bürgern bewohnt, während viele Afroamerikaner auf der Straße lebten. Miller schreibt über diese Veränderungen für die Ortszeitung "Hill Rag". "Wer mich kennt, sagt mir, dass meine Kolumnen sehr düster und negativ geworden sind. Doch genau so sehe ich die Dinge hier."

Ungerechtigkeit im Schulsystem

Die Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen fällt auch Judy Hawkins auf. Selbst die Wahl von Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten hätte daran nichts geändert. "Als ich jung war, sagte man mir: gehe zur Schule, arbeite hart und du wirst überleben. Heute habe ich erwachsene Kinder, die mir sagen: du hast uns Märchen erzählt, Mama."

Professor Ethelbert Miller im U-Street Corridor in Washington. (Foto: Simon Broll/DW)
"Düstere Sicht aufs Viertel": Ethelbert Miller von der Howard UniversityBild: DW/S. Broll

Um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, müsse das Schulsystem verändert werden. Das sagt Robert Cottrol von der George Washington Universität. "Wohlhabende Bürger in DC schicken ihre Kinder entweder auf Privatschulen oder sie ziehen in reiche Vororte", so der Hochschulprofessor. Die schwarze Bevölkerung könne sich so etwas nur selten leisten.

Hawkins' Kollegin Sherita Evans wünscht sich auch für Anacostia mehr Geld für Bildung. Laut einer #link:http://greatergreaterwashington.org/post/21204/as-dc-grows-anacostia-gets-left-behind/:Studie vom Januar 2014# liegt die Schulabbrecherquote bei 20 Prozent. "Ich will keinen weiteren Basketballspieler aufwachsen sehen", sagt die 35-Jährige. Stattdessen solle in der Grundschule mehr Politik vermittelt werden. "Wie soll es sonst Nachfolger von Martin Luther King, Malcolm X und Gandhi geben können?" 50 Jahre nach der Einführung des Civil Rights Acts, so Evans, hätte Washington noch einiges nachzuholen.